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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Leute wie mich in Zehntausende von Haushalten gedrungen.
    LIAO YIWU:
    Das Herz eines Menschen wird nicht alt. Wenn ich an den Anblick des Einwohnerkomitees damals denke, dann wird mir ganz anders.
    MI DAXI:
    Ich kenne das, heute läuft es bei kaum einem Einwohnerkomitee noch normal, in der Regel haben sie ihre Büroräume ausgeräumt und Mah-Jongg-Läden daraus gemacht.
    LIAO YIWU:
    Ich habe gehört, dass Sie hier auch nur provisorisch untergebracht sind?
    MI DAXI:
    Das Provisorium ist jetzt schon über zehn Jahre alt. Du warst noch ein kleiner Junge, als Zhen Yin, der Besitzer des Hauses, den Verstand verloren hat. Einmal hat er den Ölofen in Brand gesetzt und ihn seinem Vater unters Bett gestellt. Ein andermal hat er seinen Vater mit ins Weiße verdrehten Augen angeschnauzt. Kurz, sein Vater war sein ärgster Feind. Als man den alten Zhen zu Tode gequält hatte, hat sich um seinen Sohn niemand mehr gekümmert, hinter jedem Rock war er her. Dann ist er auf Betreiben des Einwohnerkomitees in eine Nervenheilanstalt geschickt worden. Und so kam es, dass wir uns provisorisch um sein Haus kümmern.
    LIAO YIWU:
    Was habt ihr gemacht, als er wieder nach Hause kam?
    MI DAXI:
    Wir haben ihn an Händen und Füßen gefesselt und wieder zurückgeschickt, die Anstalt war sein wirkliches Zuhause.
    LIAO YIWU:
    Ihr habt ihn zurückgeschickt, obwohl er geheilt war?
    MI DAXI:
    Das war immer noch besser, als dass er sich auf den Straßen herumtreibt.
    LIAO YIWU:
    Und wenn dieses Gebiet einmal abgerissen wird?
    MI DAXI:
    Dann geht das Konto des Verrückten auf das Einwohnerkomitee über. Es wird als kollektives Erbe für immer der Anwohnergemeinschaft gehören.
    LIAO YIWU:
    Es wird immer der Anwohnergemeinschaft gehören, deren Herz Sie sind.

Der alte Rotgardist
    Wenn man es genau nahm, gehörte der alte Liu zu den Rotgardisten der ersten Stunde, er war bei den Rebellen, er stellte Verbindungen her, er ging auf’s Land, er hielt mit den Strömungen seiner Zeit Schritt. Bedauerlich für ihn, dass seine Generation an den Rand gedrängt wurde und nie für den Mainstream der Gesellschaft bestimmt war.
    Und heute steht der alte Liu kurz davor, »wegen Restrukturierung von seiner Arbeitsstelle freigesetzt« zu werden: »Auch das ist der Strom der Zeit!«, sagte er zu mir mit einem bitteren Lächeln.
    Die Unzufriedenheit des alten Liu mit der Welt hat mit den Wunden zu tun, die ihm die Geschichte geschlagen hat. Er war von tiefer Dankbarkeit für den Vorsitzenden Mao erfüllt, weswegen ich befürchte, dass die Kulturrevolution unter den Menschen in China noch immer eine Massenbasis hätte, obwohl die Intellektuellen bis heute nichts unversucht gelassen haben, um diese zehn katastrophalen Jahre negativ darzustellen.
    Das Gespräch wurde am Nachmittag des 13 . Juni 2000 bei mir zu Hause geführt, der alte Liu hatte mich auf Vermittlung von Bekannten aufgesucht, um mich nach einem »Zweitberuf« zu fragen, der zu ihm passen würde.
    ***
    LIAO YIWU:
    Was halten Sie von all den Büchern, die jetzt zur Kulturrevolution erscheinen?
    LIU WEIDONG:
    Ich lese die überhaupt nicht. Die Bücher sind zu teuer, das kann ich mir nicht leisten. Und selbst wenn ich sie mir leisten könnte, ich hätte keine Zeit und keine Lust, sie zu lesen. In den vergangenen Jahren ist nach und nach weit über die Hälfte der Stellen in unserer Fabrik freigesetzt worden, jeder von uns nimmt monatlich kaum mehr als zweihundert Kuai mit nach Hause. Ich arbeite beim Material, ich bin noch nicht freigesetzt, aber auch da ist noch nicht aller Tage Abend. Ich habe läuten hören, dass irgend so ein Privatchef mit denen in der Fabrik verhandelt, er will billig einkaufen, er will die zig Jahre alte Fabrik plattmachen und ein Handelshaus bauen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich morgen früh aufwache und auch die Nachricht erhalte: für immer freigestellt. Nach der regionalen Politik hätte ich bei meinem hohen Dienstalter, ich bin 1978 in die Fabrik eingetreten, einen Anspruch auf eine einmalige Zahlung von fünfunddreißig- bis vierzigtausend. Meine Frau und ich würden das Geld gar nicht anzurühren wagen, wir würden es aufheben für unseren Sohn, der gerade auf die höhere Schule gekommen ist, als Schulgeld für ein Jahr wollen sie über zehntausend. Und wenn er erst die Prüfung für die Universität macht … vergessen Sie’s, ich will gar nicht weiter darüber nachdenken, meine Generation ist so ausgelaugt, soll denn ein neunundvierzig Jahre alter Mann, der in der

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