Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
Vom Netzwerk:
Mitternacht machte ich ihm die Fesseln los und stand draußen vor der Toilette Wache. Als ich nach zwanzig Minuten noch keine Regung vernahm, bin ich hinein, er war weg. Ich verlor die Fassung und beeilte mich, beim Hauptquartier Meldung zu machen. Eine große Truppe wühlte bis zum Tagesanbruch den ganzen Abtritt durch und hatte gerade die Möglichkeit eines Selbstmords ausgeschlossen und wollte einen Steckbrief herausgeben, als jemand meldete, im Brunnen sei etwas. Wir stocherten ein oder zwei Stunden mit Hakenstangen im Wasser herum, ohne Resultat. Der Kommandeur schickte uns hinunter, »um zu Ende zu bringen, was wir längst hätten tun sollen!«.
    Ich rutschte über zehn Meter an der Brunnenwand hinab, leuchtete mit der Taschenlampe, ein Toter schwamm, Gesicht nach unten, im Wasser, mir standen die Haare zu Berge, in meinen Ohren dröhnte das Gekläff der Hunde, ich beeilte mich, den Eisenhaken an dem Kragen festzumachen und brüllte, man solle erst mich hochziehen. Auf einmal, wir hatten den Toten gerade zur Hälfte hochgezogen, riss der Kragen, und er stürzte krachend zurück, es klang wie eine Seemine. Also bin ich wohl oder übel wieder hinunter, habe ein paar Mal ein Seil um ihn herumgewickelt, bis ich ihn fest hatte. Schließlich ist der reaktionäre Schuldirektor aufgetaucht, am ganzen Körper grün und blau, um den Hals einen Hosengürtel. Er stammte aus einer alten Gelehrtenfamilie, hatte aber seine Familie verraten und sich an der Universität einer Untergrundpartei angeschlossen. Nach seinem Abschluss wurde er aufs Land zurückgeschickt, um über seinen Beruf als Lehrer die revolutionäre Arbeit zu schützen. Nach der Befreiung hat er stets sehr gewissenhaft seine Pflichten als Schuldirektor erfüllt, sich in seine Studien vergraben und viele Aufstiegschancen verpasst.
    Das war ein rätselhafter Fall, der eine Zeitlang für Aufsehen sorgte, niemand konnte genau sagen, wie er heimlich seinen Bewachern vor der Toilette entwischen konnte. Außerdem konnte man sich nur entweder aufhängen oder in einen Brunnen stürzen, man musste sich entscheiden. War es ein Mordanschlag gewesen?
    LIAO YIWU:
    Aber der reaktionäre Schuldirektor ist unter Ihren Augen spurlos verschwunden, hat das Amt für Öffentliche Sicherheit Sie nicht überprüft?
    LIU WEIDONG:
    Das kann ich gar nicht genau sagen. Aber im Großen und Ganzen war es in der Kulturrevolution so, ich schrieb einen Bericht und oben bestimmte man, das sei ein Selbstmord aus Angst vor Strafe gewesen. So war die Kulturrevolution, Schüler schlugen ihre Lehrer und die Massen ihre Führer. Selbst Volksschüler wurden mobilisiert, sie haben ihren Lehrerinnen, eine damals nicht unübliche Strafe, eine Hälfte des Kopfes kahlrasiert. Deshalb, wenn irgendwer in irgendwelchen Einheiten damals als sogenannter Parteigänger des Kapitalismus ums Leben kam, dann war das völlig sinnlos.
    Der Direktor einer Mittelschule, eigentlich ein Spezialist für Ackerbau, ließ seine Schüler übers Jahr zur Hälfte als Bauern arbeiten, zur Hälfte lernen, aus dem Schulgelände machte er einen Berg aus Blumen und Früchten. Von dem Amt für Kultur und Erziehung des Kreises wurde das für vorbildlich gehalten, Jahr für Jahr kamen Besuchergruppen dorthin, um sich dieses wahrhaft überirdische Paradies anzuschauen. Womit niemand gerechnet hatte, kaum war die Kulturrevolution ausgebrochen, warfen die Schüler die Mistkübel hin und wurden zu Rebellen, der hartarbeitende und mutige Direktor wurde als Kapitalist aus dem Obstgarten herausgezerrt und tagtäglich bekämpft, wobei jeder seiner Schüler auf die Bühne trat und ihn anklagte. Schließlich ließen die Anführer der Roten Garden ihn jeden Tag und bei jedem Wetter über die Felder rennen, wobei sie im Befehlston schrien: »Eins, zwei, drei, vier, eins, zwei, drei, vier …«
    Das haben sie fast ein halbes Jahr so getrieben. Eines Tages schließlich ist der Schuldirektor in einem Reisfeld zusammengebrochen und kam nicht mehr hoch. So schnell konnte ein Kapitalist den König der Unterwelt kennenlernen. Den Schülern tat es dann leid, sie richteten den Leichnam auf, veranstalteten eine große Kritikkonferenz der gesamten Schule und erstatteten oben Bericht. Zu dieser Zeit war die Arbeit des Amtes für Öffentliche Ordnung ganz oder teilweise zum Erliegen gekommen, es wusste sich selbst nicht mehr zu helfen, so dass es eine Frage des Klassenstandpunktes war, wer gegen einen Kapitalisten Anklage erhob und die Sache untersuchte. In

Weitere Kostenlose Bücher