Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
gemacht worden. Wir wurden samt und sonders in kleine Zellen gesperrt. Danach wurde unsere Gruppe zwangsweise aufgelöst, und wir wurden zu kleinen Kriminellengruppen gesteckt, in einem Verhältnis von einem guten Dutzend zu einem wurden wir bei unserer Umerziehung durch Arbeit überwacht, jeder Tag kam uns wie ein Jahr vor.
LIAO YIWU:
Wenn Sie draußen sind, was werden Sie dann tun?
WAN BAOCHENG:
In der Wirtschaft kann ich nicht mehr arbeiten, außerdem würde die Regierung es nicht gerade gerne sehen, wenn jemand wie ich auch noch Geld hätte. Nachdem ich so viel durchgemacht habe, werde ich mich also in die Demokratiebewegung stürzen, wenn ich etwas nicht verstehe, werde ich es lernen und bei den alten Kämpfern für die Demokratie um Rat fragen. Auch wenn ich das sage, ist die Geschichte meiner konterrevolutionären Aktivitäten so absurd wie die »Angelegenheit mit der Taube«, aber ich bin von meiner eigenen Partei schrittweise ins Abseits gedrängt worden. Wenn das Schicksal mich dazu ausersehen hat, ein Pflasterstein zu sein, dann bin ich zu jedem Opfer bereit.
Die Familie eines Opfers des 4 . Juni
Vor einiger Zeit hat mich Liu Xiaobo [103] zu Ding Zilin und Jiang Peikun, zu denen es mich schon lange hinzog, mitgenommen. Kurz bevor wir uns verabschiedeten, schrieb Herr Ding, ein Lehrer, etwas auf ein Kärtchen und überreichte es mir mit den Worten: »Könnten Sie sich die Zeit nehmen und dieses Ehepaar aufsuchen? Wenn nicht, könnten Sie auch anrufen, es sind nämlich Landsleute von Ihnen, sie stammen aus derselben Provinz.«
Ich verspüre zwar nicht den geringsten Lokalpatriotismus, hatte aber doch das Gefühl, ich sollte das Vertrauen, das man in mich setzte, nicht enttäuschen und in Erfahrung bringen, wie es diesem Ehepaar, das beim Massaker vom 4 . Juni seinen geliebten Sohn verloren hatte, in letzter Zeit ergangen war und Herrn Ding eine Antwort geben. Als ich wieder in Chengdu war, wählte ich dreimal die 028-82510512 , ihre Privatnummer, aber niemand ging ans Telefon, und dann schob ich es auf die lange Bank.
Eine geraume Zeit tat sich gar nichts, und im Nu waren ein paar Monate vorbei. In der Zwischenzeit war ich überall, um Gespräche über Justizirrtümer zu führen; in dieser Zeit ließ ich mich wieder einmal scheiden, floh wieder einmal vor der Obrigkeit und war mit meinen Kräften am Ende, aber der Auftrag von Herrn Ding lag mir die ganze Zeit auf der Seele. Um diese Last von mir zu nehmen, rief ich am 17 . Mai 2005 noch zwei Mal an und hörte endlich die Stimme von Wu Dingfu! Waschechter Xinjin-Dialekt. Als er erfuhr, dass ich ein Freund von Herrn Ding sei, lud er mich mit großer Herzlichkeit zu sich nach Hause ein, um dort »ein wenig zusammenzusitzen«, und erkundigte sich immer wieder nach dem Wohlbefinden von Lehrer Ding und Lehrer Jiang. Und ob sie in letzter Zeit ausgegangen seien? Ich machte Ausflüchte, aber wir legten einen Termin für das Interview fest.
In dem Buch »Augenzeugenberichte des Massakers«, das die beiden Lehrer verfasst hatten, befand sich auch eine kurze Zeugenaussage von Wu Dingfu und seiner Frau Song Xiuling und ein Erinnerungsfoto ihres Sohnes Wu Guofeng, der auf dem Tiananmen ermordet worden war – ich habe es mir wiederholt angesehen und mein Zorn war so frisch wie vor sechzehn Jahren. Ich dachte daran, dass ich am Morgen des 4 . Juni 1989 einunddreißig Jahre alt war und mir zu Hause das Gedicht »Das große Massaker« laut vorlas – während irgendwo in den Straßen Pekings ein Student von nicht einmal einundzwanzig Jahren mit Namen Wu Guofeng von mehreren Kugeln getroffen wurde, nur weil er die damalige Begeisterung für die Nachwelt festhalten wollte …
Am 19 . Mai 2005 , am Donnerstagvormittag um elf Uhr sprang ich mit leerem Magen hastig in einen alten klapprigen Bus und fuhr von der Busstation Jinsha am Westtor von Chengdu los. Als das vom Aufsammeln und Einsteigen von Fahrgästen schwankende Gefährt schließlich die paar Dutzend Kilometer entfernte Kreishauptstadt von Xinjin erreichte, war es schon beinahe zwei Uhr Nachmittag. Für drei Yuan ließ ich mich von einem Fahrrad mit Beiwagen durch die halbe Stadt fahren und stand schließlich vor dem Jianing-Apartmenthaus in einer Musterstraße des Dörfchens Wujin. Ich schaute mich um, auf der anderen Straßenseite fiel mir ein Nudelsuppen-Restaurant ins Auge, mir lief das Wasser im Mund zusammen, aber ich drehte mich um und suchte »Haus A, Einheit vier, Nummer vier«. Ich ging in eine
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