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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Weil die Politischen vom 4 . Juni einen gewissen Sonderstatus hatten, waren die Zellen nicht gekennzeichnet. So haben wir die Taube über eine Woche lang versorgt. Als sie sich erholt hatte, hat sie uns angegurrt, was wohl so viel wie Lebewohl bedeuten sollte. Uns allen war ganz anders zumute, was haben wir diese Taube beneidet und wie haben wir ihr alle unseren Segen mitgegeben.
    Die Taube lief flügelschlagend im Kreis, wer »gugu« machte, zu dem lief sie hin, ein ganz kluges Tierchen. Der kleine Yang hob sie auf und wollte sie nur ungern freigeben.
    Der alte Lei sagte: »Lass sie frei!«
    Die meisten anderen sagten kein Wort, da meinte der alte Lei: »Ich möchte, dass diese Taube unsere Sehnsucht nach Freiheit nach draußen trägt!«
    Damit sprach er allen aus dem Herzen. Also schrieb ich auf einen Zettel: »Wir sind dreiundzwanzig politische Gefangene aus dem Gefängnis soundso in Sichuan, wir glauben an den Umsturz des Regimes und die Verwirklichung der Demokratie und hoffen, dass wir draußen nicht vergessen werden. Danke.«
    Den Zettel banden wir der Taube an den Fuß, die versammelte Mannschaft nahm zum Abschied Haltung an. Der alte Lei nahm das Tierchen aus der Jacke, seine Hände zitterten leicht. In diesem Augenblick wurde alles auf eine höhere Ebene gehoben. Es war die Taube der Revolution, die Taube des Glaubens, die mit Herzblut losgeschickte ferne Taube der Demokratie, die er mit beiden Händen gen Himmel warf. Sie zog über unseren Köpfen einen niedrigen Kreis, stieg dann plötzlich in die Höhe und flog über die hohe Doppelmauer hinaus.
    In diesem Augenblick haben wir alles um uns herum vergessen, nicht einer hatte das Gefühl, die Taube könnte sich im Weg geirrt haben. Abends lagen wir im Bett, redeten alle auf einmal und hielten eine Brieftaubenkonferenz ab. Nach der Richtung, die sie genommen hatte, nahm ich an, sie sei nach Osten geflogen: »Wenn sie Luftlinie geflogen ist, dann könnte sie jetzt schon in Shiyan oder in Xiangyang sein.«
    Der kleine Yang meinte: »Wenn sie von so einem aus Hubei großgezogen worden wäre, dann wäre sie nicht so zutraulich, ich nehme an, die Gesellschaft der Taubenzüchter aus Taiwan hat sie von irgendwem hier aussetzen lassen.«
    Der alte Li sagte: »Sag doch gleich, dass sie von Li Denghui [102] freigelassen wurde!«
    Der kleine Yang meinte: »Warum sollte das nicht möglich sein?«
    Der alte Lei warf ein: »Warum sie nicht an einem anderen Platz, sondern ausgerechnet im Hof von Politischen heruntergekommen ist, das weiß der Himmel! Aber dass sie ein Bote der Hoffnung war, das ist ja wohl klar!«
    Ich sagte: »Wenn man das Pech hat, an so einem Ort eingesperrt zu sein, ist es besser, an so etwas zu glauben, als an gar nichts, dann hat man wenigstens eine Zuversicht und hält das Ganze besser aus.«
    Alle sahen, dass ich deprimiert war und umringten mich sofort, um mich zu trösten: »Mein lieber Wang, sei standhaft. Das Gefängnis ist unser Ruhm, und den Preis, den wir heute zahlen, den wird uns dieses autokratische Regime zurückerstatten müssen!«
    LIAO YIWU:
    Dieser Taube ist zu viel Bedeutung beigemessen worden, leider ist der Himmel weit, wer soll schon wissen, was aus ihr geworden ist.
    WAN BAOCHENG:
    Vielleicht wird sie zurückkommen.
    LIAO YIWU:
    Aber auch nur im Traum! Ach, ihr hier habt wirklich etwas von den Leuten in einem Roman.
    WAN BAOCHENG:
    Der Traum war noch nicht zu Ende. Am nächsten Morgen in aller Frühe ist unser Hof besetzt worden. Ein Trupp Polizisten stürzte mit vorgehaltenen Gewehren in unsere Zellen, sie durchsuchten alles, einen ganzen Vormittag lang. Alles Schriftliche, Gedichte, politische Abhandlungen, Briefe nach Hause, Lesenotizen, Essays, alles haben sie mitgenommen. Der Politkommissar des Gefängnisses höchstpersönlich erschien auf der Bildfläche und belehrte uns, die inneren Zusammenhänge der »Angelegenheit mit der Taube« würden untersucht …
    LIAO YIWU:
    Was?! Ist die Taube von den Wachen heruntergeholt worden? Ihr solltet ein bisschen vorsichtiger sein!
    WAN BAOCHENG:
    Die Taube hatte einer vom Wachdienst des Gefängnisses heimlich gehalten, sie war schon ziemlich lange verschwunden gewesen, ihr Besitzer glaubte schon … ach, und da war sie auf einmal wieder auferstanden … die Taube ist nicht nur plötzlich nach Hause gekommen, sondern hat sich auch noch verdient gemacht.
    LIAO YIWU:
    Eigentlich war die Taube eine Verräterin.
    WAN BAOCHENG:
    Ganz unverhofft waren alle unsere Hoffnungen zunichte

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