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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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hintere Gasse, die an der Ummauerung vorbeilief, trat durch eine dieser rostigen Eisentüren der alten Nachbarschaftskomitees, hinter der vier erbärmlich schmutzige Frauen Mah-Jongg spielten. Als sie mich sahen, drehten sich die Köpfe in meine Richtung, wobei die Frauen weiter die Steine aneinanderrieben. Eine große Dicke mit einer roten Armbinde fragte mich: »Zu wem wollen Sie denn?«
    Ich beachtete sie gar nicht und ging schnurstracks zum Gebäude der Einheit, die ich suchte. Bis die fette Alte sich aufgerappelt hatte, war ich schon im ersten Stock. An der Stockwerktür begrüßte mich ein Mann mit großer Nase und sagte lächelnd: »Liao Yiwu?« Ich lächelte zurück und nickte. Als ich mit ihm rechts durch die Wohnungstür trat, entdeckte ich hinter ihm eine alte Frau mit schlohweißem Haar – das war Song Xiuling [104] , die unglückliche Mutter von Wu Guofeng. Sie sagte, sie habe schon eine ganze Weile aus dem Fenster und auf die Straße geschaut, sie hätte nicht erwartet, dass ihr werter Gast schon im Haus sei.
    Vor meinen Augen öffnete sich eine Wohnung, die sich mitten im Zerfall befand, vier nackte Wände, in denen die alten Möbel und die Menschen düster wirkten. Nur neben der Wohnungstür hing ein ungewöhnlich scharfes Schwarzweißfoto des jung verstorbenen Wu Guofeng. Ich dachte kurz darüber nach, dass das Leben des Menschen wie ein Traum ist. Ich war ganz woanders, als Vater Wu mich bat, doch Platz zu nehmen, und mir Tee anbot.
    ***
    LIAO YIWU:
    Wissen Sie, warum ich Sie um ein Interview gebeten habe? Ich habe in dem Buch von Ding Zilin und Jiang Beikun den kurzen Abschnitt über Ihren Sohn gelesen – das ist sicher eine schlimme Erinnerung für Sie. Ich für meinen Teil bin zur Zeit damit beschäftigt, solch schmerzliche Erinnerungen aufzuzeichnen, aber bei Ihnen ist das etwas anderes, haben Sie keine Angst, daran erinnert zu werden?
    WU DINGFU:
    Seit der Junge tot ist und die Hoffnung der ganzen Familie so früh zerstört wurde, gibt es nichts mehr, wovor es sich noch lohnte, Angst zu haben. Wir wollen auch darüber reden. Nur wie man das macht, da haben Sie mehr Erfahrung, machen Sie den Anfang.
    LIAO YIWU:
    Gut, gehen wir chronologisch vor und fangen bei der Kindheit von Wu Guofeng an.
    WU DINGFU:
    Ich habe drei Kinder, da ist unsere Älteste, der zweite war Wu Guofeng, er war der Beste bei der Aufnahmeprüfung für die Grundschule. Da unsere Familie hier alteingesessen ist, seit Generationen zur arbeitenden Bevölkerung gehört und die Verantwortung, die man für die Familie trägt, schwer ist, hatten wir nicht die Voraussetzungen, um unsere Kinder zu verwöhnen.
    LIAO YIWU:
    Gehören Sie zur ehemaligen »gebildeten Jugend«, die zwischen 1950 und der Kulturrevolution freiwillig oder auf äußeren Druck aufs Land ging und Bauer wurde und deshalb wenig oder gar keine Schulbildung hatte?
    WU DINGFU:
    Ich bin Jahrgang 42 , Guofengs Mutter ist Jahrgang 44 , das war die schwere Zeit des Kriegs mit Japan, niemand hätte erwartet, dass die Zeiten so schwer bleiben würden. Die Regierung hatte gewechselt, im Dunkel der Zukunft schien ein Licht angegangen zu sein, aber wir hungerten, als wir im Wachstum waren, und wir waren zu arm, um in die Schule zu gehen. Anfang 1960 habe ich die Unterstufe der Mittelschule abgeschlossen, dann war ich ein sogenannter »Sozial-Jugendlicher«, wie man damals die arbeitslosen jungen Leute nannte, bis man mir schließlich eine Arbeit zuteilte und mich zum Einkäufer des Nachbarschaftskomitees machte. Guofengs Mutter war nur Hausfrau.
    LIAO YIWU:
    Das heißt also auch, dass die ganze Familie an Ihrem Gehalt hing?
    WU DINGFU:
    Ich hatte so um die dreißig Yuan, Guofengs Mutter machte zu Hause kleine Handarbeiten wie Knöpfe annähen, einsäumen, damit konnte sie ein paar Mao am Tag dazuverdienen, aber auf über mehr als vierzig Kuai kamen wir nicht. Davon mussten fünf Mäuler gestopft werden. Zu Zeiten der Planwirtschaft wagte man es nicht, sich auf anderen Wegen Geld zu beschaffen, also mussten wir jeden Mao zwei Mal umdrehen. Und wenn die Kleider und Hosen den Älteren nicht mehr passten, wurden die Löcher gestopft und die Jungen zogen sie an. Es war ein Trost, dass Wu Guofeng intelligent war und uns alle Ehre machte. Der Junge wurde von seinen Großeltern gehütet wie ein Augapfel. Auch wenn sein Großvater Arbeiter war und eine Rikscha zog, so hatte er doch ein bisschen Bildung und setzte seinen Enkel oft neben sich, schrieb an die Wand und brachte ihm die

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