Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
für seine Zeit hatte er einen außergewöhnlichen Weitblick.
WU DINGFU:
Wir waren wie Ameisen auf einem heißen Topf, wir schmorten zu Hause im eigenen Saft, von morgens bis abends starrten wir in den Fernseher. Im Leitartikel der Renmin Ribao vom 26 . April hat Li Peng, der Hurensohn, die Studentenunruhen als Revolte bezeichnet, und dann ging es los: Demonstrationen, Hungerstreik, Kniefall, Bitten, Gespräche, Ausnahmezustand und die ersten Truppenverlegungen. Ich konnte fast nicht mehr an mich halten, ich wollte nach Peking – aber dann bekam ich am 31 . Mai endlich ein Telegramm von Wu Guofeng, in dem es hieß: »Will nach Hause, brauche Geld für die Reise.«
Damals wusste ich noch nicht, dass er sich eine Kamera gekauft hatte, deshalb war ich ein wenig unsicher. Aber schließlich habe ich ihm doch voller Freude telegraphisch zweihundert Yuan geschickt. Ich saß relativ beruhigt zu Hause und wartete auf seine Heimkehr. Aber Wu Guofeng ist nie mehr heimgekommen. In diesen Tagen ist die Situation eskaliert, wir gaben uns alle Mühe, nur das Beste anzunehmen – zum Beispiel dachten wir, dass es gar kein Fehler sei, wenn man den Studenten mit dem Ausnahmezustand und den Panzern auf dem Tiananmen ein wenig Angst einjagte und sie in ihren Schulen einschloss.
Ich bin schon in normalen Zeiten nicht sehr stabil, in diesen Tagen machte ich mich regelrecht verrückt und litt unter einer Lähmung des Gesichtsnervs, ich ging täglich zur Klinik, um mich akupunktieren zu lassen. Am Vormittag des 8 . Juni hatte ich das Gefühl, es wurde ein wenig besser, und setzte mich auf die Türschwelle in die Sonne, als mir die Gemeindeverwaltung Wujin, Kreis Xinjin, ausrichten ließ, dass man mit mir reden wolle. Ich ging über die Straße und betrat gerade das Haupttor der Verwaltung, als mich der zuständige Beamte direkt fragte: »Wu Dingfu, Ihr Sohn hat an den konterrevolutionären Aufständen in Peking teilgenommen, wussten Sie das?«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen und stieß reflexartig aus: »Was sagen Sie da?«
Der Beamte wiederholte: »Ihr Sohn hat an den konterrevolutionären Aufständen in Peking teilgenommen.«
Ich antwortete: »Keine Ahnung.«
Der Beamte räusperte sich und verkündete, wobei er nach jedem Wort eine Pause machte: »Wir … setzten … Sie … hiermit … offiziell … in … Kenntnis, dass … Ihr Sohn … Wu Guofeng … … tot ist!«
Mein Kopf war ganz leer, ich hörte nur eine fremde Stimme aus meinem eigenen Mund kommen und diese Stimme fragte: »Ist das wahr?«
Mein Gegenüber setzte eine ernste Miene auf: »Wir haben ein Sondertelegramm von der Regierung in Peking erhalten, Ihr Sohn ist tot.«
Ich hatte das Gefühl, mein ganzer Körper wurde weich wie Teig und wollte wegsacken, aber ich hielt mich mit Gewalt aufrecht: »Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?«
Mein Gegenüber fügte hinzu: »Die Einzelheiten sind noch nicht geklärt, die Regierung hat beschlossen, dass Ihre Familie morgen von uns Fahrkarten bekommen und der stellvertretende Sekretär Zhang Sie und Ihre Familie begleiten wird. Wenn die Trauerangelegenheiten erledigt sind, wird er die Asche Ihres Sohnes mit zurückgeleiten.«
»Von mir aus!«, gab ich zurück und fing an zu zittern, mir brach der kalte Schweiß aus. Ich kämpfte eine Weile mit mir, dann stand ich vom Stuhl auf. Der zuständige Beamte befürchtete, ich würde im Amt zusammenbrechen, deshalb sprang er mir rasch zur Seite, aber ich stieß ihn weg: »Ich brauche keinen von euch! Ich kann schon selber gehen, es ist ja nicht meine Hinrichtung.«
Ich wankte über die Straße nach Hause, das Hupen der Autos hörte ich nur aus weiter Ferne. Als ich in der Wohnung war, lehnte ich mich gegen die Wand und holte Luft, die Tränen liefen mir herunter wie Schweiß, mein ganzes Hemd war nass. Meine Frau wollte sehen, was los war, packte mich und sagte: »Was ist denn mit dir?«
Ich heulte los, und sie fragte immer wieder: »Verdammt, Mann, was ist mit dir?«
Ich biss auf die Zähne und brüllte unter Aufbietung aller Kräfte: »Wu Guofeng ist tot!«
Als sie das hörte, sackte sie zu Boden. Auch die Sanitäter haben sie nicht wieder zu sich gebracht. Sie blieb einen Tag und eine Nacht in diesem Zustand, dann kam wieder Leben in sie, sie aß nicht, sie trank nicht, sie weinte nur und rief immer wieder: »Wu Guofeng, warum hast du uns verlassen!«
Am Morgen des 9 . Juni stand die Verwaltung vor der Tür und drückte uns zwei Zugfahrscheine in die Hand, der
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