Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
sich?
WU DINGFU:
Weil Wu Guofeng noch nicht verheiratet war und keine Nachkommen hatte, war er noch Sohn und Enkel, deshalb hüllten wir ihn in Weiß, um zu zeigen, dass er noch ganz unschuldig war. Am Vormittag des 13 . Juni haben wir dann im Krankenhaus eine Abschiedszeremonie abgehalten. Einige seiner Kommilitonen und Lehrer nahmen daran teil, alle bildeten einen Kreis um ihn, alle hatten Tränen in den Augen, aber gesagt wurde nichts. Seine Kommilitonen haben uns gestützt, bis das Ganze vorbei war, dann haben wir seine sterblichen Überreste zur Verbrennung zum Babaoshan-Friedhof [105] gebracht.
In diesen Tagen war im Krematorium ungewöhnlich viel zu tun, ununterbrochen wurden Leichen herangeschafft, die Öfen glühten rund um die Uhr. Hier hatte man längst von oben die dringliche Aufforderung erhalten, tote Studenten als Allererste zu verbrennen. Deshalb mussten wir uns nicht in der unübersehbaren Schlange von Leichen einreihen, sondern haben Wu Guofeng durch eine Hintertür hineingebracht. An der Registrierstelle des Krematoriums saß ein alter Mann, er hatte vom fehlenden Schlaf ganz rote Augen. Er schrieb unaufhörlich, wie eine Maschine. Ich unterrichtete ihn über die Sachlage, und er raschelte mit den Urkunden herum, ohne den Kopf zu heben. Ich dachte, ich hätte etwas falsch gemacht, und rief einschmeichelnd etwas von »Herr Vorstand«, aber er winkte nur ungeduldig mit der Hand und sagte: »Nicht reden! Ich weiß, wie man ein Formular ausfüllt! Ich kämpfe nun schon ein paar Tage am Stück hier herum, ich komme nicht einmal zum Pinkeln! Also, beruhigen Sie sich, es geht alles seinen Gang.«
Selbst Urnen waren Mangelware. Wir waren gerade angekommen, als es noch Dutzende davon gab. Guofengs Mutter wollte eine von denen kaufen, auf die ein Drache geschnitzt war, aber ich war nicht einverstanden. Ich wollte eine von den durchsichtigen, durch die man die Knochenreste und die Asche sehen konnte. Wir haben ein paar Minuten herumdiskutiert, und im Nu waren die ganzen Urnen verschwunden, wie von Zauberhand. Wir hörten hinter uns nur etwas wie: »Hier ist noch eine, und dort fehlt noch eine!«, und haben im Vorübergehen noch eine an uns gerissen.
LIAO YIWU:
Das Krematorium war ja ein richtiger Basar!
WU DINGFU:
Wir haben einige Stunden gebraucht, bis wir die Asche in Empfang nehmen konnten, dann haben wir uns sofort auf den Weg gemacht. Am 16 . nahmen wir den Zug und waren am 18 . wieder in Xinjin. Zu Hause haben wir ein Seelenzelt errichtet, Freunde und Verwandte kamen von überall her, um eine Gedenkfeier zu veranstalten. Womit wir nicht gerechnet hatten – nach gerade einmal drei Tagen suchte uns einer von der Gemeindeverwaltung auf und redete uns zu, das Seelenzelt abzubauen. Als ich mich weigerte, sagte er: »In den nächsten beiden Tagen kommen die Schlammfüßler, die Kader vom Land, in die Stadt, um sich die Rede Deng Xiaopings an die oberen Armeekader, die von oben geschickt worden ist, anzuhören. Diese Hinterwälder sind doch blöde im Kopf, die verstehen einen Scheißdreck, wenn die mitbekommen, dass dein Seelenzelt im Widerspruch zum Geist des Zentralkomitees steht, dann sehen die rot, und du bist doch ein ehrlicher Mann, wenn du dich nicht zurückziehst, was dann?«
Ich zögerte eine Weile, dann versprach ich, den Teil zur Straße hin abzubauen, aber den Hauptteil in der Wohnung auf keinen Fall, denn viele der Kommilitonen von Wu Guofeng waren noch unterwegs.
Einige Zeit später stand auch das Seelenzelt nicht mehr, aber wir hatten immer noch seine Asche zu Hause. Eigentlich dachte ich, solange die Leute vom 4 . Juni nicht rehabilitiert wären, würden ihre herumirrenden Seelen keinen Frieden finden, deshalb habe ich die Asche nicht begraben. Aber als dann das Jahr 2002 kam, ist auch der jüngere Bruder von Wu Guofeng gestorben, da waren alle Hoffnungen dahin, und wir haben die Asche der beiden Brüder gemeinsam gegenüber auf dem Berg begraben.
LIAO YIWU:
Sein Bruder war doch noch so jung, wieso ist er gestorben?
WU DINGFU:
Sein kleiner Bruder, mein Jüngster, war ein sehr verständiger Junge. Als er sah, dass sein älterer Bruder mit seinen weitreichenden und hochfliegenden Zielen nicht mehr lebte, hat er die schwere Verantwortung für seine Eltern auf sich genommen und jeden Tag von morgens bis tief in die Nacht geschuftet. Eigentlich wollte er ein bisschen Geld verdienen, damit es der ganzen Familie ein bisschen besser gehen sollte und die seelischen Wunden ein wenig
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