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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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stellvertretende Sekretär, der uns, wie es ursprünglich hieß, begleiten sollte, ließ sich nicht blicken …
    LIAO YIWU:
    Hatten sie es sich anders überlegt?
    WU DINGFU:
    Die Beamten in kleinen Orten sind Feiglinge, wenn sie Angst haben, einen Fehler zu machen, dann drücken sie sich einfach.
    LIAO YIWU:
    Entschuldigung, ich habe Sie unterbrochen. Den letzten Brief von Wu Guofeng haben Sie am 31 . Mai erhalten?
    WU DINGFU:
    Ja.
    LIAO YIWU:
    Haben Sie damals keine vage Ahnung gehabt?
    WU DINGFU:
    Wir hatten ja nur das Fernsehen, wir hätten im Traum nicht gedacht, dass sie schießen würden! Li Peng, der Hurensohn, hatte den militärischen Ausnahmezustand verhängt, die Truppen drangen auf verschiedenen Straßen in die Stadt ein, wir haben doch nicht mit einem Massaker gerechnet. Von wegen! Alles Lüge! Von wegen »zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung«! Ich glaubte noch immer, wenn es hoch käme, würden sie ein paar Leute verhaften, und wenn Wu Guofeng Pech hätte, dann würde er ihnen in die Arme laufen, aber Studenten gegenüber würden sie Milde walten lassen; schlimmstenfalls würde er bestraft werden, aber selbst wenn er aus einem Arbeitslager zurückgekommen wäre, er wäre doch noch unser Sohn gewesen – ich habe politische Kampagnen mitgemacht, mit so etwas verliert doch keine Regierung das Gesicht. Deshalb, womit sie hinter dem Berg hält, das sind die Hinrichtungen vom 4 . Juni …
    LIAO YIWU:
    Im Ernst?
    WU DINGFU:
    Aber hundert Prozent!
    LIAO YIWU:
    Damals war die ganze Welt erschüttert …
    WU DINGFU:
    Die ganze Welt war erschüttert, das heißt aber nicht unbedingt, dass wir Bescheid wissen. Jiangjin ist ein kleiner Ort, wenn die Kommunistische Partei eine Nachrichtensperre verhängt, dann tappen wir im Dunkeln.
    LIAO YIWU:
    Haben Sie außer der offiziellen Benachrichtigung noch über andere Kanäle etwas über das Schicksal Ihres Sohnes erfahren?
    WU DINGFU:
    Am Nachmittag des 8 . Juni haben wir aus Xuzhou ein Telegramm von Wu Guofang erhalten, das ist die Patenschwester von Wu Guofeng, darin hieß es: »Guofeng ist ermordet worden.«
    LIAO YIWU:
    Stammt diese Wu Guofang aus Xuzhou?
    WU DINGFU:
    Sie stammt aus der Provinz Jiangsu, sie studiert am zweiten Fremdspracheninstitut in Peking, sie ist ein Jahr älter als Wu Guofeng. Sie hat am 4 . Juni die Todesnachricht bekommen, aber in diesen Tagen war Peking längst eine tote Stadt, die Truppen hatten den Ausnahmezustand genutzt, um alle Nachrichtenverbindungen zu kappen. Sie konnte uns nicht verständigen, aber es brannte ihr auf den Nägeln, also verabredete sie mit einer Kommilitonin, die auch aus Xinjin war, sich auf einer abenteuerlichen Zugfahrt nach Xuzhou davonzustehlen und von dort ein Telegramm zu schicken.
    Langer Rede kurzer Sinn, am Nachmittag des 9 . Juni sind wir in Chengdu in den Zug nach Peking gestiegen. Wir waren so traurig, dass wir zwei Tage und eine Nacht nichts gegessen haben, wir haben uns nur mit ein wenig Wasser aufrecht gehalten. Am Bahnhof in Peking hat uns die stellvertretende Sekretärin des Instituts für industrielles Wirtschaftsmanagement der Universität des Volkes abgeholt, eine Frau namens Zhang. Diese Genossin fragte uns einfach, wie die Reise war, und schwieg dann. Bis sie uns im Gästehaus der Universität untergebracht hatte, schärfte sie uns immer wieder ein, wir sollten uns erst einmal richtig ausruhen, am nächsten Tag würden wir alles weitere besprechen.
    Am Vormittag des nächsten Tages ließen der Sekretär des Instituts und seine Stellvertreterin sich sehen und erzählten uns von den Geschehnissen an der Renda vor dem 4 . Juni, soweit sie Wu Guofeng betrafen. Der Sekretär sagte, am Abend des 3 . Juni seien sie höchstpersönlich und der Reihe nach von Zimmer zu Zimmer gelaufen, um den Studenten unmissverständlich klar zu machen, dass draußen geschossen würde und dass sie auf keinen Fall vor die Tür gehen dürften! Das Institut gab sogar bekannt, es sei ausnahmsweise erlaubt, im Wohnheim Karten und Mah-Jongg zu spielen. Außerdem erzählte der Sekretär, unser Wu Guofeng sei ein ehrlicher Junge gewesen, er hätte sich in diesen Tagen Arme und Beine verrenkt und sei nur noch gehumpelt, er versprach vollmundig, er werde nicht nach draußen gehen. Aber kaum hätten sie ihm den Rücken zugewandt, hätte er sich trotzig seine Kamera geschnappt, sei wie besessen aus dem Gebäude gestürzt und mit dem Rad davongefahren.
    Erst jetzt begriff ich, dass Wu Guofeng die riesige Summe von

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