Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
Jahren Straßenmusiker in der Gegend um das Grabmal des Wang Jian, jeder kennt mich und weiß, dass ich anständige Musik mache, und also werden meine Melodien auch bestellt. Vielleicht gibt es Blinde wie mich auch am Wuhou-Ahnentempel, in der Chunxi-Straße oder am Walzmühlfluss, ich weiß es nicht und will auch nichts davon hören. Ich will jeden Abend zum Grabmal des Wang Jian. Und wie ich denken viele in meinem Umfeld, die einen spielen Gitarre, die anderen Geige, wieder andere putzen Schuhe, reparieren Fahrräder oder betteln. Wenn wir eines Tages auf die Idee kämen, zum Wuhou-Ahnentempel zu gehen, um dort Fuß zu fassen, dann wäre das sehr schwierig, wir würden sehr schnell weggejagt werden.
LIAO YIWU:
Sie haben also keine Angst vor einer wirtschaftlichen Depression? Und wenn nun die Restaurants in dieser Gegend eins nach dem anderen zumachen, was dann?
BLINDER:
Hier haben schon unzählige Läden dichtgemacht, aber es gibt immer genug Gäste und Leute, die den Traum vom Reichtum träumen. Deshalb bedeutet die Schließung von einem Laden nicht mehr als das Auswechseln des Ladenschilds, die Läden hier werden niemals verschwinden. Wenn ein Laden mit chinesischem Essen eingeht, macht dafür ein Laden mit westlichem auf, wenn die Meeresfrüchte eingehen, dann gibt es Feuertopf. Hier am Grabmal des Wang Jian ist einmal ein Kaiser begraben worden, das heißt, das Fengshui ist sehr gut, menschliches Qi ist üppig, vor allem im Sommer, da steht ein Feuertopf neben dem anderen, bis auf die Gehsteige hinaus, man kann gar nicht mehr treten. Dann ist meine Nase voll von Gewürzen und Gerüchen, und ich muss aufpassen, dass ich niemandem in den Feuertopf falle.
LIAO YIWU:
Ist das eine gute Zeit für Straßenmusiker?
BLINDER:
Wenn überall die Suppentöpfe brodeln, ist das hier in der Gegend ein Auf und Ab von Spielen und Singen. Die Erhu ist aber zu leise, die kann sich nicht durchsetzen, da habe ich es mir gefallen lassen, dass man mir einen Lautsprecher gibt, den trage ich auf dem Rücken, wenn ich spiele. Überall sind dann Bühnen, wer kümmert sich da schon um wen? Ist doch sowieso alles für die Unterhaltung der Gäste. Fürs Geldverdienen.
LIAO YIWU:
Man bekommt das Gefühl, Sie spielen in einem Schweinestall.
BLINDER:
Aber wo gibt es denn noch Leute, die so viel von Musik verstehen wie Ihr? Und um darauf zurückzukommen, wenn alle wären wie Ihr, dann hätte ich mich längst zu Tode gespielt.
LIAO YIWU:
Warum sagen Sie das?
BLINDER:
Wenn ich jedes Mal mit meinem Herzblut spielen müsste … das Herzblut eines Menschen ist nicht unerschöpflich.
LIAO YIWU:
Haben Sie das Gefühl, dass Sie Ihr Leben vergeudet haben?
BLINDER:
Mein Leben? Ich habe noch nie über so große Fragen nachgedacht. Für einen Blinden ist ein Tag wie der andere, außer wenn er krank ist oder sich wehgetan hat. Als ich sechzehn war, habe ich in einem Teehaus gespielt, plötzlich knallten den ganzen Tag Böller, die den Klang meiner Erhu ganz zudeckten, aber ich habe auf Teufel komm raus weitergespielt, bis der Chef des Ladens sich mein Instrument gegriffen hat. Da erst habe ich mitbekommen, dass der ganze Laden leer war. Draußen haben die Leute auf Gongs und Trommeln herumgehauen, ich habe mich nach draußen getastet, und da habe ich erfahren, dass die Volksbefreiungsarmee in die Stadt einmarschiert war. Später hat uns die Volksregierung Fahrgeld gegeben und uns Blinde nach Sichuan zurückgeschickt. Ich habe ein Jahr lang Blindenschrift gelernt und bin auf eine Partnerin gestoßen.
LIAO YIWU:
»Gestoßen«? Was heißt das denn?
BLINDER:
Mit den Händen. Das muss so 1957 gewesen sein, damals waren die Stücke von dem blinden A Bing sehr in Mode [115] , die Volksmusik war eine Weile tatsächlich am Florieren, ich habe auch davon profitiert und bin auf die Bühne. Ich habe für die Massen gespielt und für die Professoren an der Musikhochschule, ich habe sogar eine Schallplatte aufgenommen. Und die Führung hat mir erlaubt, Schüler auszubilden. Welche mit Augen wollte ich nicht, denn Leute, die sehen können, finden keinen Zugang zu unserer Welt.
Mein kleiner Bruder war drei Jahre jünger als ich, er hat, genau wie ich, Tag und Nacht geübt, um die Kultur des Volkes zu verbreiten. Eines Mittags bin ich eingeschlafen und hatte das Gefühl, dass da irgendwelches Getier auf meinem Gesicht herumkrabbelt, ich habe einige Male mit der Hand gewedelt und bin schließlich an eine kleine, weiche Hand gestoßen, die mit
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