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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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rechts, bei den Vier Säuberungen [18] , hatten wir, politisch gesehen, ganz schön dicke Luft, und die Leute hatten keinen Ort, wo sie einmal Dampf ablassen konnten, da war das ja noch zu verzeihen; aber heutzutage, wo man überall Dampf ablassen kann, sind meine Wände immer noch vollgekritzelt. Das ist doch nicht normal!
    LIAO YIWU:
    Was steht denn da so? Da wisst Ihr bestimmt mehr als ich.
    ZHOU MINGGUI:
    Ich bin ziemlich ungebildet, habe auch nie genau hingesehen, dafür war ich viel zu verärgert. Da stand so was wie Kinderverse, unanständige Zeichnungen, grobe Ausdrücke, Parolen, alles voller Hintersinn und von allem etwas. Sowieso haben diese Dinge eine lange Geschichte, in der Stadt, in den ländlichen Gebieten, man musste sich nur zum Scheißen hinsetzen, schon kamen ganz von selbst ein paar Sätze. Die Kulturrevolution war eine Ausnahme, da wurden Parolen über die Parteigänger des Kapitals und über Fraktionskämpfe direkt in die Toiletten gemalt, so was wie »Beiß nicht in die Hundescheiße der Menschheit« oder »Monarchisten fresst Scheiße« oder so was wie »Der Tempel ist klein, das Übel ist groß, die Senkgrube flach, aber der Mücken sind viel.«
    LIAO YIWU:
    Mein älterer Bruder erzählt, das einzige Kinderlied, das er auswendig konnte, stammte von einer Toilette, das ging so: »Wir zwei sind gut, wir zwei sind gut / Wir sammeln Geld für Pelz und Hut / Das steht dir gut, ich heize ein / Das Haus brennt ab, ich war’s nicht, nein / Die Feuerwehr, die rettet dich / Die Jeeps, die kommen, jagen mich / Dongmen-Revier, das ist ihr Ziel / Da sitzen der Halunken viel / Die pressen mich wie Pressfleisch ab / Du ein Häppchen, er ein Happ / Mama flennt rein und leckt den Löffel ab.«
    ZHOU MINGGUI:
    Und was soll das heißen?
    LIAO YIWU:
    Von Sinn ist hier gar nicht die Rede, aber man hatte das Gefühl, es war interessanter als die Lieder, die uns die Lehrer beibrachten. Da war auch noch ein »Lokusliebeslied«:
    »Wie ein Vogel fliegst du hoch und weg / Ich grab als Mistkäfer im Dreck / du ziehst am Himmel deine Kreise / Ich schlag’ Purzelbäume in der Scheiße.«
    ZHOU MINGGUI:
    Wofür merkst du dir als gebildeter Mensch so schmutzige Knittelverse?
    LIAO YIWU:
    Da macht man sich lächerlich, Großvater, nicht wahr!? Die Latrinenkultur. China hat über eine Milliarde Menschen, aber nur wenige können Aufsätze schreiben und die auch noch in einer Zeitung veröffentlichen. Außerdem, was veröffentlicht wird, wird geprüft und wieder geprüft, das macht es nicht unbedingt besser. Viele Menschen haben ein Leben lang nicht das Recht gehabt, bei öffentlichen Versammlungen zu reden, und deshalb ist für sie die öffentliche Toilette der Ort der freien Meinungsäußerung. In den meisten Fällen schreibt man dort einfach, was man schreibt, niemand verlangt Rechenschaft von einem. Früher habe ich eine Mitschülerin gehasst, die sich in der Klasse beschwert hat, also schrieb ich auf dem Klo: »Wang Xiaohong ist die Frau eines Großgrundbesitzers!« und »Das Großgrundbesitzerweib Wang Xiaohong ist eine Kapitalistenfotze!« Solch unverfrorene und unverblümte Diffamierungen kommen unter chinesischen Kindern sehr häufig vor; was an Toilettenwänden beginnt, setzt sich an den Mauern draußen fort, erst tobt ein Einzelner auf der Straße herum, und daraus wird ein gegenseitiges Beschimpfen von vielen, bis auf den Mauern kein Platz mehr ist, dann wird es abgekratzt und die Schimpferei fängt von vorne an. Und die Erwachsenen würdigen das Ganze entweder keines Blickes oder haben ihren Spaß daran. Niemand hat vor, den Fall zu lösen.
    ZHOU MINGGUI:
    Ich bin ein zu einfacher Mann, so was kann ich gar nicht denken.
    LIAO YIWU:
    Dann sagt mir, was Ihr denkt!
    ZHOU MINGGUI:
    In Wirklichkeit entstehen solche Kritzeleien vor allem, weil das Umfeld nicht stimmt. Die Klos früher, das waren Konstruktionen aus Holz- oder Betonbalken, es gab sogar noch so primitive Umfriedungen aus Lehmmauern und Bambuszäunen, da konnte man leicht mit allem Möglichen drauf herumkritzeln: Bleistift, Kreide, Füller. Die Leute früher hatten immer einen Stift bei sich, zum einen machten sie ihr Geschäft, zum anderen ließen sie ihrer Phantasie freien Lauf. Das war ein Vergnügen, bei dem man sogar den Gestank vergaß. Heutzutage müssen die Toiletten Gebühren verlangen, fast alles hat sich zum Besseren verändert. Die Trennwände sind gekachelt und ganz glatt. Darauf kann man nicht gut mit Stiften

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