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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Vaters gewesen, Tag und Uhrzeit der Beisetzung meines Vaters waren nach seinen Berechnungen festgelegt worden. Da er nicht gut zu Fuß war, wurde die feierliche Beisetzung meines Vaters von seinem ältesten Enkel geleitet.
    Im Umkreis von hundert chinesischen Meilen war Luo Tianwang der »Himmelskönig Wang«, so bei den Leuten sein Spitzname, womit sie auf seine übernatürlichen Kräfte anspielten. Er war bereits über 90  Jahre alt, sah noch gut, war fit und augenscheinlich gut beieinander. Ich bin ihm noch heute dankbar, dass er sich die Mühe gemacht hat, ein paar Stunden mit mir zu plaudern und die Geschichte von dem ungerechten Prozess gegen die Totenrufer lebendig vor meinen Augen erstehen zu lassen. Dazu muss man wissen, dass sich das Ganze vor über 50  Jahren abgespielt hat! Wäre Himmelskönig Wang ein normaler Sterblicher gewesen, seine Erinnerung daran wäre längst lückenhaft geworden. Er trug seinen Namen nicht zu unrecht!
    ***
    LIAO YIWU:
    Diese Geschichten von den Totenrufern habe ich schon als kleiner Junge gehört. Nach dem Ausbruch der Kulturrevolution wurde mein Vater als Rinderteufel und Schlangengeist in eine Studiengruppe gesperrt. Auf sich alleine gestellt, hatte meine Mutter Schwierigkeiten durchzukommen, sie floh nach Chengdu, und eine Zeitlang ließ sie mich mit meiner Schwester hier im Heimatdorf meines Vaters. Meinen Großvater kennt Ihr vielleicht, der alte Grundbesitzer, der so arm war, dass ihn die Läuse bissen.
    LUO TIANWANG:
    Deinen Großvater Li Shufan, und ob ich den kenne, wir sind alte Bekannte! Damals, noch in der alten Gesellschaft, hat er mit harter Arbeit sein Glück gemacht, ist aber nie jemandem zu nahe getreten, ein guter Mensch! Er hat es bis zum Schutzmann gebracht, aber dass er wie wir alle ein Lehmfüßler war, hat er nicht vergessen, er hat Seite an Seite mit den Landarbeitern die Winternassfelder bebaut.
    Einmal war der Ochse zu kaputt und blieb stur und steif stehen, mitten im Feld, da ging kein Schritt mehr vor und keiner mehr zurück, da hat er es nicht geduldet, dass die Landarbeiter die Peitsche benutzen, sondern mit bloßem Oberkörper den Pflug selbst gezogen. Die Befreiung 1949 war für ihn eine Katastrophe, sie stellten ihn auf aufrecht stehende Ziegelsteine und malträtierten ihn; wer weiß, wie viele Male er zu Boden gestürzt ist, er musste sich gerädert fühlen mit seinen alten Knochen …
    LIAO YIWU:
    Ich weiß, bevor Anfang der achtziger Jahre der Klassenstatus abgemildert wurde, hatte mein Großvater nicht einen guten Tag. Von dem alten Viereckhof haben sie an zwei Seiten die Häuser abgerissen, und die restlichen beiden wurden von Regen und Wind geschüttelt … Großvater ist schon viele Jahre tot, aber ich träume noch immer von ihm, wie er, ein Seil aus Ochsennasengras um die Hüfte und einen Tropfen an der Nase, von Soldaten der Produktionsbrigade zu den Kampfversammlungen gegen die Fünf Elemente, Grundbesitzer, reiche Bauern, Konterrevolutionäre, Rechtsabweichler und andere schlechte Elemente eskortiert wurde. In der Zeit damals gab es für meine Seele keinen größeren Trost als die arme Bäuerin, die Haus an Haus und Tür an Tür mit Großvater wohnte. Sie hatte viele Katzen, und im Winter schlüpften die Katzen unter ihre Decke und schliefen mit ihr in einem Bett. In mondhellen Nächten saß sie am Kopfende des Ahnengrabs meiner Familie, wedelte mit einem aus Rohrkolbenblättern geflochtenen Fächer und erzählte Gespenstergeschichten. Sie setzte meiner Schwester und mir ein Sieb umgekehrt auf den Kopf und ließ uns durch die nadelkopfgroßen Löcher die hungrigen Gespenster der Jahre 61 und 62 sehen. Es waren Massen. Die einprägsamsten von ihnen waren die Totenrufer.
    LUO TIANWANG:
    Du sprichst von Li Wangshi, diese einsame alte Witwe, die von der Wohlfahrt lebt. Sie spielt sich gerne auf.
    LIAO YIWU:
    Wenn sie etwas erzählte, dann war es realistisch. Noch so viele Jahre später habe ich die Erinnerung an ihre Geschichten in einem Gedicht mit dem Titel »Die tote Stadt« festgehalten, etwa in der Zeile »Durch ein Sieb folgen meine Augen den Totenrufern in die Ferne / Wenn mein Opfergeld verbrannt ist, durchbreche ich die Felswand« oder »Unentwegt die lauten Stimmen der Totenrufer, meine Haarwurzeln fließen über von Leichengeruch«.
    LUO TIANWANG:
    Was erzählst du da? »Die lauten Stimmen der Totenrufer«? Wer hat die gehört?
    LIAO YIWU:
    Die Kinder haben damit angegeben, aber auch die Alten habe ich davon erzählen

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