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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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hören.
    LUO TIANWANG:
    Ich rede aber nicht von Gedichten, was ich sage, entspricht den Tatsachen! Den Beruf des Totenrufers, auch wenn er nicht zu den zweiundsiebzig zugelassenen Berufen gehört, hat es, wie es heißt, immer gegeben, von alters her. Ich bin schon neunzig Jahre alt; in meinen jungen Jahren, während der Kriegswirren, bin ich bis nach Shaanxi und Henan gelaufen, als Hausierer, ich habe mit Salz gehandelt. Und weil das Reisen nicht billig war, war ich in der Regel in der Begleitung von sechs, sieben jungen Burschen aus meinem Dorf zu Fuß unterwegs. Wenn wir Glück hatten, gaben wir auch ein paar Kupfermünzen für einen billigen Bus aus. Die Wege in Sichuan waren beschwerlich, es gab keine Landstraße, die sich in einem Stück durch die ganze Provinz zog. Manchmal war man zu Fuß schneller als mit dem Auto.
    Von Yanting über Zitong, Jiange und Guangyuan bis an die Grenze von Hanzhong, Kreis Nanzheng, Provinz Sichuan sind wir fast nur über Bergpfade geklettert. Zwischen Huangling und Yedian haben wir einmal zufällig ein paar große Schriftzeichen auf dem Boden ausgelegt gesehen: »Die Toten werden über die Grenze gerufen.« Ein böser Wind wehte ein paar Scheine Totengeld auf, wir bedeckten unsere Gesichter und machten, dass wir weiterkamen. Uns schlug das Herz bis zum Hals, aber wir fragten uns doch: Wenn ein Mensch tot ist, wird er steif wie ein Brett, wie kann er da über eine Grenze gehen? Und es waren ja auch keine Hunde, Schweine, Enten oder Hühner, die man einfach so rufen konnte und sie kamen gelaufen!
    LIAO YIWU:
    Was für eine »Grenze« war gemeint? Die Grenze zwischen Yin und Yang, zwischen Diesseits und Unterwelt?
    LUO TIANWANG:
    Es war auch die Grenze zwischen Provinzen oder Kreisen gemeint. In der alten Gesellschaft, da gab es keine Schnellstraßen, die damaligen Reichsstraßen sahen aus wie heute auf den Dörfern die Feldwege, sie waren schlammig, lehmig und schwer zu passieren. Und wenn früher jemand das Pech hatte und in der Fremde schwer krank wurde und starb, musste es ja jemanden geben, der die Leichen aufsammelte. Damals waren Feuerbestattungen noch nicht in Mode. Wenn der Tote kein Glück hatte und seine wirtschaftliche Situation entsprechend war, dann blieb nichts, als bei seinen Gefährten ein bisschen Geld zu sammeln, einen Sarg zu kaufen und ihn rasch in fremder Erde zu begraben.
    LIAO YIWU:
    Stimmt, ein Onkel von mir hat mit seiner Theatertruppe in den vierziger Jahren Sichuan verlassen und ist dann am Ufer des Poyang-Sees in der Provinz Jiangxi seinem Schicksal begegnet, er kam ums Leben und wurde an Ort und Stelle begraben.
    LUO TIANWANG:
    In der chinesischen Tradition heißt es, das Blatt kehrt zurück zu seinen Wurzeln. Wenn jemand stirbt und nicht in seinen Heimatboden zurückkehren kann, nennt man ihn eine »wandernde Seele«. Deshalb verpflichtete jeder Tote, der es sich wirtschaftlich leisten konnte, seine Erben dazu, keine Ausgaben zu scheuen, um ihn zurückzubringen! Aber wie sollte man das bewerkstelligen? Ohne Wagen, ohne Träger? Außerdem wäre man viel zu lange unterwegs gewesen.
    LIAO YIWU:
    Habt Ihr Totenrufer gesehen, ich meine, mit eigenen Augen?
    LUO TIANWANG:
    Ja, aber das war ein eigenartiges Unrecht.
    LIAO YIWU:
    Großvater, lasst Euch Zeit, erzählt nur in aller Ruhe.
    LUO TIANWANG:
    Es muss so Anfang 1950 gewesen sein, ganz Sichuan war befreit, die Arbeitsgruppen zogen vom Bezirk Yanting aufs Land, begannen mit ihrer Säuberung von Räubern und Tyrannen, machten mobil für die Landreform und kategorisierten die Menschen nach ihrem Klassenhintergrund. Eine Kampagne folgte der anderen, sie waren voller Schwung und Elan, aber wenn ich heute daran zurückdenke, kommt es mir wie ein ziemliches Durcheinander vor.
    Kurz, auf dem Land war kein Frieden mehr, viele aus den großen Familien sind davongelaufen und versteckten sich in den Bergen, tauchten in den Städten unter, und wer zum Paoge-Geheimbund gehörte, ging mit seinen Leuten in die Berge.
    Meine Familie beschäftigte sich seit drei Generationen mit Feng-shui, wir wurden kategorisiert als »abergläubisches Gewerbe«. Eines Mittags, es hatte geregnet und war trübe und ich kam gerade aus der Tür, als plötzlich ein Etwas von enormen Ausmaßen an mir vorbeischoss. Unwillkürlich schauderte es mich, aber aus Neugier lief ich doch hinterher. Schließlich erkannte ich sehr genau das wehende Übergewand, es war lang, schwarz und mit Schlamm bespritzt, und da war noch ein Paar Lederpantinen, die

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