Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
tiefen Graben und brach sich den Schädel. Sein jüngerer Bruder wurde gefasst, und kaum dass es hell war, zwang man ihn, die Leiche seines Bruders zu bergen.
Es ist schon so, der Schöpfer spielt mit den Menschen! Der Ältere der beiden Totenrufer wurde wie die Frau des Guomindang-Offiziers in eine Strohmatte eingerollt, und beide wurden am gleichen Ort begraben. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass der Tod dem Leben auf dem Fuß folgt. Dem Jüngeren wurde strengstens seine »Repatriierung« befohlen, und als er von den Behörden eine Totenurkunde verlangte, die er gerne seinen Eltern daheim in die Hand gedrückt hätte, stand auf dieser »Urkunde« etwas ganz Schlimmes: »Hiermit wird beurkundet … mit einer Konterrevolutionärin begraben … Selbstmord aus Angst vor Bestrafung.«
LIAO YIWU:
Ach, das klingt, wie in Erfüllung seiner Pflicht gestorben.
LUO TIANWANG:
Keiner hatte allerdings erwartet, dass die Angelegenheit damit noch nicht erledigt war. Nach ein paar Tagen kam die Familie der Offiziersgattin die dreißig Meilen herüber, um nach ihr zu suchen. Nachdem sie vom Regimentskommandeur noch die schriftliche Mitteilung erhalten hatten, hatten sie sich nach dem Brief die ungefähre Ankunftszeit der Leiche ausgerechnet, so war es Brauch; sie hatten ein Aussegnungszelt errichtet und die Beerdigung vorbereitet. Als sie ewig nicht kam, machten sie sich auf den Weg nach Norden, um sie zu suchen.
LIAO YIWU:
Aber nun war sie schon beigesetzt, was jetzt?
LUO TIANWANG:
Unter vielen Tränen bettelten sie bei der Gemeinderegierung. Aber obwohl sie einen festen Klassenstandpunkt beziehen sollten, lag den Kadern die Sache mit der Toten auf dem Herzen – beinahe wäre die Kampfversammlung zu einem Desaster geworden, zudem hatten sie einen verblendeten Vertreter der Massen ungerechterweise erschossen, was ihnen scharfe Kritik von oben eingebracht hatte, kurz und gut, sie erlaubten auf der Stelle die Exhumierung der Leiche.
Und nach vielem Hin und Her ist die Frau des Regimentskommandeurs am Ende doch in ihrer Heimaterde begraben worden. In ihrem Beerdigungszug gingen zwanzig, dreißig Leute, Suona und Flöten wurden gespielt, Becken und Gong geschlagen, was für eine Trauer! Aber was uns alle am meisten erstaunte, die Gemeindekader stellten sich taub und stumm, sie sind nicht eingeschritten.
Der »Leprakranke«
Anfang Dezember 2005 traf ich in einer kleinen Stadt in der Provinz Yunnan einen gewissen Doktor Sun, einen Christen. Doktor Sun reist umher, um Kranke zu behandeln, ähnlich einem Wanderarzt in Chinas alter Zeit. Erst im Gespräch erfuhr ich, dass Doktor Sun aus den Provinzen Jiangsu und Zhejiang stammt, nach dem Besuch einer höheren Schule 1974 nach Xishuangbanna in Yunnan aufs Land verschickt wurde und nach der Reform und Öffnung des Landes die Eingangsprüfung der Medizinischen Hochschule Peking absolvierte. Danach arbeitete er viele Jahre im Gesundheitswesen, wobei seine Zukunftsaussichten zunächst glänzend waren, bis er sich Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Gott zuwandte. Seither wurden ihm immer wieder Steine in den Weg gelegt, und sein Leben war voller Enttäuschungen. Zuletzt wurde er aus seinem regulären Arbeitsverhältnis entlassen und begann, von seiner Heilkunst zu leben, indem er bei den einfachen Leuten Hausbesuche machte.
Wir sprachen sehr offen miteinander, denn auch ich hatte meinen Lebensunterhalt einmal als Flötenspieler auf der Straße verdient. Doktor Sun sorgt sich in einem von mir nicht erwarteten Maße um das Wohl des einfachen Volkes, er hat das reine Herz eines Neugeborenen. Als ihm deutlich wurde, dass ich an Recherchen für meine Aufzeichnungen chinesischer Justizverbrechen arbeitete, gingen die Gefühle mit ihm durch. Er stand auf, packte mich am Arm und sagte sehr laut: »Ich habe den Namen Liao Yiwu schon einmal gehört, Sie sind der Autor, den ich brauche!«
Ich sagte: »Haben Sie eine Spur für mich?«
Doktor Sun schüttelte den Kopf: »Was heißt eine Spur? Der barmherzige Herr verlangt, dass ich Sie zu einem Unrechtsfall führe.«
Nun war es an mir, bewegt zu sein, dann verabredeten wir uns ein weiteres Mal und verabschiedeten uns voneinander.
Am 15 . Dezember packte ich zu Hause wie gewohnt meine Sachen zusammen und brach anschließend zu einer Recherche nach Peking auf; am 28 . kehrte ich nach Kunming zurück und traf mich sofort wieder mit Doktor Sun. Weil ein Freund uns bereitwillig im Auto mitnahm, kamen wir auf unserer
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