Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
und das Gepäck. So ging das von Dorf zu Dorf, vier, fünf Stunden lang, es war eine Tortur. Und kaum hob man einmal den Kopf, schon schrie einer: »Willst du abhauen? Sei vorsichtig, Lakai!«
Kurz darauf kursierte das Gerücht, sämtliche Halunken sollten den offiziellen Organen der Diktatur überantwortet werden. Ich kaufte mir heimlich einen großen Teebecher und gefütterte Lederstiefel und plante mit zwei anderen die Flucht. Aber auf einmal tauchte im kritischen Augenblick meine Mutter auf. Die alte Frau mit ihren kleinen Füßen war schon über siebzig. Als meine Schwester ins Umerziehungslager geschickt wurde, erschien in der »RenminRibao« der Leitartikel »Auch wir haben zwei Hände, wir werden nicht in der Hauptstadt das Brot des Müßiggangs essen«. Die Straßenkomitees nahmen das zum Anlass, die Leute direkt an der Haustür zu mobilisieren. Sie wollten sie aus Lanzhou in die ländlichen Gebiete vertreiben. Die alte Frau war ganz alleine, was sollte sie machen, sie machte sich mit Bus und Bahn auf die Suche nach ihrem Sohn, um das Unglück abzuwenden.
Meine Mutter brachte zwanzig Pfund Mehl mit, eine Schale aus grobem Steingut, dazu Kleidung, Seife, Taschentücher. Ursprünglich hatte sie vor, sich hier nicht mehr wegzubewegen, aber das war nicht möglich. Die Propagandaabteilung hinderte sie daran: »Dein Sohn ist Konterevolutionär, er ist zur Untersuchung in Haft.«
Das war die Begründung. Die alte Frau verstand immer noch nicht: »Mein Sohn ist mit zwölf zu den Soldaten gegangen, wie sollte er Konterrevolutionär sein?«
Ich bekam Ausgang und durfte für meine Mutter eine Herberge suchen. Die arme alte Frau hatte ihr Gepäck noch nicht richtig ausgepackt und musste tags darauf schon wieder zurück. Ich habe sie gedrängt zu gehen, wenn ich heute daran rühre, tut es mir im Herzen weh … seit ich meine Freiheit wieder hatte, fuhr ich jedes Jahr einmal nach Hause. Die alte Frau zog für meine Schwester deren beide Kinder groß, eins von ihrem ersten, eins von ihrem zweiten Mann. Ich schickte ihr jeden Montag fünfzehn Yuan.
Nach ihrer Entlassung aus dem Umerziehungslager durfte sich meine Schwester nach den Bestimmungen nur in den ländlichen Gebieten um Lanzhou herum niederlassen, wo sie der Kontrolle der Massen unterstand. Dort wurde sie bekämpft und floh nach Hause. Polizei und Straßenkomitee tauchten bei ihr zu Hause auf, und als sie sie davonschleppten, nahmen sie meine Mutter gleich mit. Dabei schrien sie: »Nieder mit Wang Qingfeng!« [68]
Sie wurden mit Dachziegeln beworfen und durch die Straßen getrieben. Einmal, ich komme gerade herein, sitze mit meiner Mutter auf dem Kang und esse etwas, da fliegt mit einem lauten Krach ein Ziegel durch das Fenster.
Der ganze Kang war mit Glasscherben übersät, ich schnappte mir den Ziegel und ging zum Leiter der Polizeidienststelle: »Ich bin ein revolutionärer Kader, wer übernimmt die Verantwortung, wenn meine Mutter von so einem Ding einmal erschlagen wird?«
Ich bekam einen Monat Heimaturlaub, aber ich hielt es immer nur knapp vierzehn Tage aus. Ich besuchte häufig meine alten Kameraden aus dem Militärbezirk von Lanzhou und erzählte ihnen von den Schwierigkeiten meiner Familie, aber sie wagten nicht, sich um sie zu kümmern. Ich bin auch zum Dorf meiner Schwester gefahren, aber kaum kam die Sprache darauf, dass ich »der kleine Bruder der unter Kuratel gestellten Wang Qingfeng« war, verdüsterten sich die freundlichen Mienen. Selbst ein hundsgewöhnlicher Volksmilizionär hatte die Stirn, mir ins Gesicht zu sagen: »Wang Xiling, und wenn du dich in Asche verwandelst, ich erkenne dich wieder!«
Meine Mutter ist 1978 , am 13 . Januar, gestorben. Sie hatte es am Herz und an der Lunge, Bronchitis, und schwerhörig war sie auch. Damals hatten wir kein Geld für ein Krankenhaus, deshalb bat ich den alten Kommandanten des Militärbezirks von Lanzhou und eine weitere Freundin mit Namen Chen Weiwei, die später auch Rechtsabweichlerin wurde, um Hilfe. Den ersten Chopin meines Lebens hat sie gespielt. Erst als die beiden mit dem Krankenhaus redeten, wurde meine Mutter aufgenommen. Chen Weiwei hatte mir 1955 einmal vierzig Yuan geschenkt, das war damals eine Stange Geld.
Mein Zuhause sah aus wie ein langer Flur, zehn Meter in der Tiefe, zwei, drei Meter breit. Meine Mutter hat lange in dieser Arme-Leute-Höhle gewohnt, sie war von Natur aus sehr sparsam. Sie stand drei Tage auf dem Korridor des Krankenhauses, bis sie in ein Krankenzimmer
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