Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
ursprüngliche Melodie ist die von »Mein armer, armer Bruder«! Eine junge Frauenstimme, im Hintergrund begleitet von einer primitiven Suona. In der Vierten ist dieser Teil länger, insgesamt neun Minuten, die Tränen verschwimmen zu einem düsteren Fluss, sich überschlagende Köpfe, ohne Gesichter, ohne Ohren, ohne erkennbare Miene, neun Minuten lang nichts als Tränen! Acht große Kontrabässe, die unentwegt sinken, bis es nicht mehr weiter geht, bis sie am absoluten Tiefpunkt angekommen sind. Was das ist? Das sind lokale Oper und Volkslied. Tausende von Jahren dieses Stück, ein Lied, »Achachje«, diese drei Silben, die die Menschen in Tausenden von Jahren nicht geändert haben. Doch plötzlich, die große Pauke, badam, badam, die das zerschlägt! Die von den Kontrabässen getragenen Tränen werden hinweggefegt! Die Politik, Mao, das Knacken des Fleischwolfs der Kampagnen, sie werden in ein dunkles Zimmer geworfen, mit verbundenen Augen, es flüstert, es flüstert, es wispert, es wispert, es knistert, es knistert, das sind Geräusche wie von Mäusen, das diskutiert, das denunziert, das kujoniert, das dekuvriert, das kommandiert, das drangsaliert! Tretet ihn tot! Peitscht ihn aus, pai, pai, schlagt ihn, bis er nicht mehr ein noch aus weiß! Spuckt ihn an, pteh, pteh! Dicker Rotz verklebt dein Gesicht, verschlingt dein Hirn, verklebt dein Haar. Keine Zeit zum Abwischen, pteh, pteh! Drauf, drauf! Und dann mit den Fäusten, Männer, hübsche Mädchen, die gestern noch deine Schülerinnen waren, heute sind ihre Gesichter von der revolutionären Kampagne verzerrt, die Münder sind voller schmutziger Worte. Ein Rauschen! Am besten in die Rippengegend, das zieht, einen halben Tag, er soll keine Luft mehr bekommen, wir werden es ihm einbläuen!
Unzählige Tritte treffen dich, Pfeile aus dem Dunkel, von Freunden, Schülern, Genossen, machen aus dir einen Igel! Du liegst neben der Jauchegrube auf dem Bauch, du durchlebst in einem Augenblick Tragödie, Komödie, Farce, Oratorium und Seifenoper! Du brichst zusammen, deine Würde bricht zusammen, und du schreibst eine Ode auf den Steiß …
LIAO YIWU:
Ist Ihre Musik eine Anklage?
WANG XILIN:
Nicht nur eine Anklage, sie will auch Rache nehmen, wie etwa »Die Schwarzgekleideten«, keiner ist entkommen.
LIAO YIWU:
In der Phantasie? Sie lassen mich an van Gogh denken …
WANG XILIN:
Ich bin nicht van Gogh! Ich war vierzehn Jahre auf das Land verbannt, eingesperrt, gefoltert! Getreten, verachtet und vergessen, schlimmer als ein Schwein oder ein Hund! Mein Leben war vorbei, und das wegen dieser zwei Stunden, in denen ich eine treue und ergebene Rede gehalten habe. Und vorher, auf dem Konservatorium, auf der höheren Schule, während der Kampagne gegen Rechtsabweichler, beim Großen Sprung, bei der Landverbringung, habe ich nicht das Geringste von der westlichen Musik des zwanzigsten Jahrhunderts gewusst. Strawinsky, dekadent, Richard Strauss, konterrevolutionär, Schostakowitsch, Cholera und Pest! Wir waren um ein halbes Jahrhundert zurück, bis in die achtziger Jahre hinein, bis das Land seine Türen geöffnet hat und viele Dinge zu uns hineinströmten, erst da spürten wir, was wir alles nicht gehört, was wir alles nicht gelernt hatten.
LIAO YIWU:
Van Gogh wurde von der eisernen Faust des Schicksals zu einem Genie geformt, er war kaum auf dieser Welt, als seine Leiden auch schon begannen. In der Liebe, im Beruf, in der Freundschaft, er war nie zufrieden, er wurde in den Wahnsinn getrieben, er hörte Stimmen, und diese Stimmen malte er. Nur, dass Sie zu Anfang sehr zufrieden waren, darin liegt ein gewisser Unterschied zwischen Ihnen beiden: Sie sind mit zwölf zur Armee und wurden behütet, sie haben am Konservatorium studiert, sie sind einer Musikeinheit des Zentralkomitees zugewiesen worden, Sie waren in Ihren jungen Jahren ein aufstrebendes Talent, Sie schrieben Ihr »Quartett« und die symphonische Dichtung »Yunnan« mit ihren sehr eng geführten Melodien, was Ihnen noch mehr Neider eingebracht hat. Aber warum mussten Sie sich Ihre eigene Zukunft zerstören? Sie waren bereits sehr weit gekommen und hatten die musikalischen und technischen Voraussetzungen, um in den Dienst des Kaisers zu treten, sozusagen! Mir ist aufgefallen, dass Sie in jeder der vergangenen Epochen mit Leichtigkeit die stärkste Musik hervorgebracht haben, von dem »Großen Chor« gar nicht zu reden, wo Sie mitten im Tohuwabohu der Kulturrevolution als Heizer gearbeitet und gleichzeitig etwas
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