Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
Universität des Volkes in Peking, wenn ihr Sohn nicht in der Nacht vom 4 . Juni 1989 erschossen worden wäre, hätte sie, wie viele andere Intellektuelle auch, weiter die Nischen des Systems genossen, wäre eine brave Bürgerin geblieben und hätte junge Leute unterrichtet und erzogen. Auch sie hätte nicht in diesem Tempo Aussagen über die Opfer gesammelt, die Bewegung der Mütter vom Platz des Himmlischen Friedens gegründet und wäre so zu einer gefährlichen Feindin der Partei geworden.
Professor Wang, in den vielen Jahren, in denen ich solche Interviews mache, ist mir eines bewusst geworden: Fast alle Bürger in dieser Zeit, die man als herausragend bezeichnen kann, Autoren, Künstler, Gelehrte, Wissenschaftler, sogar Volkskünstler – wie unschuldig ihr persönlicher Antrieb auch gewesen sein mochte, wie weit sie sich auch aus den Intrigen der Politik herauszuhalten versuchten, wenn sie anständig bleiben und sich einen Rest von Gewissen bewahren wollten, sie sind früher oder später unter die Räder gekommen und haben mit Partei und Volk gebrochen.
Der alte Rechtsabweichler
Am Vormittag des 22 . August 1997 , die Sonne stand sengend im Zenit, überquerte ich die breite, staubige Hauptstraße und begab mich zu einem Ort in der Nähe des Westtor-Bahnhofs von Chengdu mit dem Namen »Ochsenschlachter-Gasse«. Entsprechend der Nummer auf dem Türschild begab ich mich in den dritten Stock, wo ich Herrn Feng Zhongci antraf, einen in Vergessenheit geratenen alten Rechtsabweichler. Es brauchte viele Worte, um dieses Interview schließlich zustandezubringen.
Fengs Körper war ausgemergelt, aber sein Geist war klar. Er war, wie seine Frau, zum Zeitpunkt des Interviews 65 Jahre alt; das alte Paar hatte einen Jungen und ein Mädchen großgezogen, die beide auf eigenen Füßen standen und eine Familie gegründet hatten.
In dem Zimmerchen war es wie in einem Dampfkorb, während des Interviews floss uns der Schweiß in Strömen herab, es war, als säßen wir im Regen. Herr Feng zog zweimal seine Weste aus und wrang jedes Mal mindestens zwei Schalen Schweiß aus. Unwillkürlich mahnte ich ihn, sich nicht zu erkälten, doch er wehrte auf freundliche, aber bestimmte Weise ab. Die Kultiviertheit eines gebildeten Menschen verliert sich eben nie.
Erwähnenswert ist darüber hinaus, dass Feng Zhongci als ehemaliger Komiteesekretär der Kommunistischen Jugendliga der Universität heute mit dem ehemaligen Guomindang-Militär Liao Enze Tür an Tür wohnte und beide in engem Kontakt standen – als ob die ganze Geschichte nie stattgefunden hätte.
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FENG ZHONGCI:
Mein alter Freund Liao Enze hat mir dein Anliegen vorgetragen, aber mir ist der Grund deines Kommens immer noch nicht klar. Es gibt jede Menge namhafter Leute unter den Rechtsabweichlern, die eine außergewöhnlich wechselhafte und bewegende Geschichte haben, warum suchst du nicht das Gespräch mit einem von ihnen? Du bist ein Dichter, du kennst gewiss die Geschichte der Lyrikzeitschrift »Sterne«, die damaligen »rechten« Redakteure Bai Hang, Liu Shahe, Shi Tianhe und Ba Xia erfreuen sich bester Gesundheit, ich schlage vor, du sprichst mit ihnen.
LIAO YIWU:
Ich habe einige Zeit gebraucht, um Sie ausfindig zu machen, und da möchte ich natürlich nicht mit leeren Händen nach Hause kommen. Lassen Sie uns doch einfach zwanglos ein wenig plaudern, Sie können reden, worüber Sie wollen, das ist kein formelles Interview, ich habe gar nicht die Qualifikation, um über diesen Abschnitt der Geschichte einen Kommentar abzugeben.
FENG ZHONGCI:
Ich habe nichts, worüber sich gut reden ließe.
LIAO YIWU:
Dann lassen Sie uns doch bei der Lyrikzeitschrift »Sterne« anfangen! Anfang der achtziger Jahre brachen die »Sterne« mit dem Beitrag »Die ›Sterne‹ und ich« ein Tabu, was heftige Diskussionen auslöste. Zu dem Artikel beigesteuert hatten Lyrikliebhaber, die allesamt 1957 von den »Sternen« in Prozesse verwickelt und in deren Folge zu Rechtsabweichlern gestempelt worden waren …
FENG ZHONGCI:
Ich habe keine Ahnung von Gedichten.
LIAO YIWU:
Aber der plötzliche Umschlag der politischen Wetterlage damals hat Sie doch sicher nicht unbeeindruckt gelassen? Ich habe entsprechendes Material nachgeschlagen, und mir wurde klar, dass die entspannte Atmosphäre im ersten Halbjahr 1957 , wo man seine Ansichten frei äußern konnte, mit einer Reflexion der Bewegungen des internationalen Kommunismus zu tun hatte. In der Sowjetunion betrat Chruschtschow die
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