Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
in edle Gewänder gehüllten Fürsten, die einen hellen Kiesweg runterspazieren. Ich hatte gleich Kutschen und weiße Pferde vor Augen. Auch bei Unter den Linden assoziierte ich das Grün von Limettenschale und helle und dunkle Flecken ohne Struktur auf unebenem Grund. Limmatquai, Sihlquai, Rudolf-Brun-Brücke, Bellevue, Rämistrasse – wie hohl und blass diese Bezeichnungen Züricher Straßen und Promenaden dagegen waren – ein wesentlicher Grund im Übrigen, warum ich nie einen Orientierungssinn innerhalb Zürichs entwickelt hatte. Die Straßennamen dieser Stadt bieten mir bis heute keine Inspiration, und ich kann mir kaum eine Gasse oder den Standort eines Geschäfts merken.
Wir kamen also in Berlin an, wohnten in einem Hotel in Mitte und trafen meine älteste Schwester, die noch hier studierte, zum Kaffee. Sofort, als ich sie nach nur sechs Monaten Studium in Berlin zum ersten Mal wiedersah, bemerkte ich, dass sie Netzstrümpfe zum Jeansrock trug. Aus Zürich kommend waren Netzstrümpfe ein modisches Neuland; abseits von Perlenohrringen, Nerz, Kaschmir und taillierter Bluse ja geradezu ein Vergehen. Aber der Eindruck ist mir geblieben, und ich muss gedacht haben: Wenn Berlin Netzstrümpfe ermöglicht, mein Gott, was kommt da noch!
Die Geburtstagsgesellschaft war groß und sehr deutsch. Laut meinem Pass bin auch ich deutsch, aber in der Schweiz ist Deutschsein eher ein Nachteil, und da ich mich von Kindheit an als zwischen den Welten sitzend empfand, hatte ich mich mit über neunzehn Jahren damit abgefunden, eben nichts von beidem zu sein. Ich empfand die Deutschen als sehr direkt, sehr laut, sie waren alle einen Kopf größer als die Schweizer, irgendwie anders als alles, was ich bisher kennengelernt hatte.
Was meine Figur betraf, so stand ich auch nach den Monaten seit Littenheid unter der kritischen Beobachtung meiner Mutter. Ich wusste, dass ich immer noch zu dünn war, und bemühte mich nicht unbedingt, mehr zu werden. Doch hier in Berlin schien das keinen zu kümmern. Mein Tischnachbar stellte Fragen, die alles andere, nur nicht mein äußerliches Erscheinen betrafen, und machte charmante Bemerkungen, denen ich wie Kanonenschüssen auswich. Wie schon damals im Café machte ich die Erfahrung, dass es Menschen gab, die Interesse an mir hatten und zugleich mein Interesse für sie weckten.
Ich sagte Salem ab und kehrte nach Berlin zurück, wohnte in der WG meiner Schwester in Kreuzberg und suchte jene Gymnasien auf, die mir immerhin die Möglichkeit gegeben hatten vorzusprechen. An einem der Tage reiste ich mit Stadtplan und U-Bahn-Plan von der Friesenstraße in Kreuzberg nach Zehlendorf, wo das Schadow-Gymnasium lag. Ich fand mich vor einem großen Backsteingebäude wieder, das so gar nicht nach Elite aussah, und war sehr beruhigt. Vor den Türen zum Hauptgebäude lagen Zigarettenkippen, silberne Tags zierten die vom Ruß geschwärzten Mauern der Schule, und die Klinke am Eingang war abgegriffen. Ich ging mit dem guten Gefühl hinein, dass dies das totale Gegenteil von Salem war – das konnte nur Gutes heißen. Im Treppenhaus roch es weder sauber noch dreckig. Auf den ersten Blick schien es mir, als habe man seit langer Zeit vergessen, die Wände zu streichen, den Boden zu pflegen, zu lüften. Aber ich empfand nichts Unangenehmes dabei. Ich war regelrecht erleichtert, in einer ganz normalen Schule gelandet zu sein. Hier will ich hin, dachte ich sofort. Hoffnungsvoll sah ich mich nach dem Lehrerzimmer um. Irgendwie fand ich es, klopfte an und fragte nach dem Direktor.
Man ließ mich warten. Das Zimmer, in dem ich wartete, ist in meiner Erinnerung olivgrün und eichenholzbraun, ich saß auf einem knarrenden Stuhl und starrte gegen eine Wand.
»Bitte.« Die Tür öffnete sich.
Ich trat ein. Vor mir saß ein kleiner dicklicher Mann mit kurzen grauen Haaren, einem Schnauzer und frech blickenden Augen. Er wirkte gar nicht intellektuell und auch gar nicht freundlich, das gefiel mir. Ich setzte mich. Er spielte mit einem Füllfederhalter, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er höchst amüsiert über mein Erscheinen, überhaupt über mein Anliegen war.
»Sie wollen also hier zur Schule gehen«, stellte er fest.
»Ich will nicht, ich muss. Und Sie müssen mich lassen.«
»Und Sie kommen aus der Schweiz?« Er schien immer noch amüsiert, aber auch etwas besorgt.
»Ja. Aus Zürich.«
»Aber was wollen Sie, wenn Sie aus Zürich kommen, denn in Berlin?«, fragte er sehr verwundert und nun etwas
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