Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
Feldhockey auf dem linken Flügel gespielt hatte, aber das schien mir sehr lange her zu sein. Mein Vater umriss meine schulische Laufbahn und legte eine fünf Zentimeter dicke Mappe mit Zeugnissen, Notentabellen und Berichten aus der Vermont Academy und der Sekundarschule in Zürich vor.
Gelangweilt starrte ich auf den hoch und runter wippenden Fuß des Stufenleiters vor mir, betrachtete seine Socken, die zwischen den Lederriemen seiner Birkenstocksandalen hervorragten. Ich war wieder beherrscht von einer zweiten Persönlichkeit, die all seine Fragen nur mit »ja«, »nein« oder »ist mir egal« beantwortete.
Es war wie früher, wenn ich mit meinen Eltern im Zimmer des Schuldirektors saß und darüber diskutiert wurde, ob ich wegen klinisch diagnostizierter Legasthenie und Dyskalkulie vom Mathematikunterricht suspendiert werden sollte. Ich fühlte mich taubstumm, unfähig, mich gegen dieses Stigma zu wehren.
Nun war ich so viel älter, saß wieder bei einem Direktor und konnte nicht aussprechen, was ich eigentlich dachte – nämlich, dass die Mathematik für mich der größte Schrecken war und ich in all diesen Fächern versagen würde.
Er war schrecklich freundlich und bemühte sich, die Fakten so hinzubiegen, dass die Aufnahme im Herbst gar kein Problem darstellte. So einfach kann es doch nicht sein!, dachte ich. Ein Bild drängte sich mir auf: Ich sah mich in der Mittagssonne auf dem Bretterboden eines Podestes stehen. Um meinen Hals lag die Schlaufe eines dicken Taus. Meine Hände im Rücken gebunden, sah ich ins Gesicht eines Geistlichen, der mir hier und jetzt noch mal einige Sätze aus der Bibel vorlas und mir erlaubte, bevor die Luke unter meinen Füßen geöffnet wurde, noch ein letztes Gebet zu sprechen.
Mein stilles Gebet lautete, nicht hier zur Schule gehen zu müssen. Ich würde keinen unbeobachteten Schritt tun können, ich müsste schreckliches Internatsessen essen, müsste versuchen, mich in alteingebürgerte Internatscliquen einzufügen, und heimlich rauchen oder trinken, um dazuzugehören.
Doch mein Vater und ich fuhren ein zweites Mal zum Bodensee. Diesmal saßen wir mit dem Stufenleiter beim Direktor des Internats, und auch er lächelte mich freundlich an. Er warb für sein Institut und seine Schüler, und er schien sehr erfreut über meine Bereitschaft, Teil dieser großartigen Bildungsstätte und der Gemeinschaft zu werden.
Aber ich will nicht!, schrie ich innerlich. Ich bin nicht großartig, ich bin auch gar nicht gescheit, ich habe keine Freunde, und ich werde versagen! Doch wie paralysiert saß ich vor diesen netten, wohlwollenden Pädagogen und konnte nicht sprechen. Ich konnte nicht »nein!« sagen. Stattdessen sagte ich gar nichts. Der Strick, der wurde schwerer, und nun, da ich mein Gebet im Stillen gesprochen hatte, erklomm der Henker das Podest. Im weiteren Gespräch wurde der Schulbeginn für Anfang August angesetzt. Händeschüttelnd verabschiedeten sich der Direktor und der Stufenleiter von mir, und ich fuhr mit meinem Vater zurück nach Hause.
Im Auto wurde er sehr wütend, ich hätte mich unmöglich benommen. Vielleicht schwieg ich, vielleicht sagte ich auch, ich hätte mich bemüht, freundlich zu sein, vielleicht habe ich gestanden, nicht dort hingehen zu wollen.
Es gäbe für mich keine andere Möglichkeit, erwiderte mein Vater. Basta.
Ein weiteres Gespräch mit meinen Eltern war unausweichlich. Zurück in Zürich, saß ich also wieder im Esszimmer, nahm all meinen Mut zusammen und versuchte mein Gefühlschaos in Worte zu fassen, ohne zu wissen, was meine Argumente gegen Salem sein sollten. Meine Eltern wollten doch nur mein Bestes, sie wollten mich irgendwo wissen, wo es sicher war, wo mir nichts passieren konnte, wo ich lernte und wurde wie alle anderen. Sie wollten mich behüten, und ich wollte verstoßen und trotzdem geliebt werden.
»Ich will da nicht hin«, sagte ich.
Meine Eltern beharrten aber auf ihrer Entscheidung, meinten, es gäbe keine andere Schule, die mich mit meiner Geschichte aufnehmen würde, und wenn ich diese letzte Chance nicht ergriffe, dann könnte ich einpacken und Milch schäumen bis ans Ende meiner Tage.
»Nein«, sagte ich. Eine ungeahnte Kraft beherrschte mich. So offen hatte ich den Plänen meiner Eltern noch nie widersprochen. Ich hatte gehungert, aber ich hatte nichts gesagt. Ich hatte vor mich hingefiebert, aber ich hatte nicht gesprochen. Nun war es raus, das »Nein«.
Meine Mutter wurde so wütend, dass ich schließlich in den
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