Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
vorgebeugt. »Ist Zürich nicht wunderschön?«
»Nein, es ist schrecklich.«
»So so.« Er schien nachzudenken. Mit seinen frechen Blicken begutachtete er mich. Es war mir unangenehm, weil ich fürchtete, er könnte mich zu dünn, zu krank, zu verzweifelt finden. Ich fühlte mich wie ein hungriges Kind, das immer lauthals gewettert hatte, es möge keinen Spinat. Nun, wo der Hunger aber so schrecklich quälte, bat es um nichts anderes als eine Schüssel Spinat.
»Sie sind aber nicht von zu Hause ausgerissen?«, fragte er.
»Nein«, sagte ich. Für einen Moment genoss ich die Vorstellung, wie es wohl wäre, ausgerissen zu sein. Ich fügte hinzu: »Meine Eltern wissen, dass ich hier bin.«
»Nun, wenn Sie wollen, dann können Sie natürlich bei uns zur Schule gehen. Das ist ja in Ihrem Alter eher ungewöhnlich. Ich meine, dass Sie das freiwillig tun.«
Ich lächelte beschämt. Wie tief war ich gesunken, dass ich »freiwillig« zur Schule ging? »Wissen Sie, ich habe keine andere Wahl, ich muss einfach nur das Abitur schaffen. Mehr will ich gar nicht. Bitte lassen Sie mich zwei Jahre hier zur Schule gehen, ich werde mein Bestes geben.« Ich sagte dies im Glauben, dass, wenn ich erst einmal mein Abitur hatte, alles besser werden würde. Mit Abitur würde das Leben schön sein. Abitur klang in meinen Ohren fast wie Freiheit.
Der kleine Mann hatte, glaube ich, Mitleid mit mir. Na, wenn die so unbedingt will, warum soll sie dann nicht können? Die Bürokratie und wie das alles mit den Schuljahren hinhauen sollte, welche Fächer ich belegen könnte, wo ich im Lehrplan wieder anknüpfen würde, das schien ihn nicht zu kümmern. Er sagte einfach: »Das kriegen wir hin.«
3
Re gen, Wind, wütender Wald. Erst gegen Mittag öffnet sich die Wolkendecke am Himmel. Die scharfe Kälte riecht, wie Chili schmeckt, nichts duftet mehr.
Dann geschieht etwas Außergewöhnliches auf der Farm.
Ich erfahre es durch Jim, dessen Entdeckung die Runde macht: Ein Biber hat sich an unserem Teich eingenistet.
»Wenn der zu dieser Jahreszeit auftaucht, ist er von zu Hause ausgerissen oder rausgeschmissen worden«, meint Jim. Ich will mehr wissen und treffe Jim mittags im Shed bei den Traktoren und Landmaschinen.
»Hat er bereits Bäume gefällt?«, frage ich.
»Nur einen jungen Ahorn und eine der Tannen. Ich habe versucht, seinen Arbeitsweg aufzuspüren. Sieht aus, als sei er gerade erst dabei einzuziehen.« Jim reibt sich die Nasenspitze mit dem Handrücken.
»Und was wirst du tun – ihn vertreiben?«, frage ich.
Jim lacht und schüttelt den Kopf. »Nein, vertreiben kann man so einen Kerl nicht. Hat er erst mal einen so schönen Ort gefunden, lässt er sich den nicht einfach so nehmen. Der kommt immer wieder zurück – ich werde ihn fangen. Wir wollen unseren Waldrand doch behalten, oder?«
Ich führe mir den Biberteich im Wald vor Augen, an dem ich regelmäßig mit Francis vorbeireite. In der Tat sieht das Drumherum dieses Biberponds verlassen und abgestorben aus. Der Biber dort beißt in einer Nacht einen fünfzig Jahre alten Baum durch. Die fallenden Bäume schlagen Schneisen in die Uferböschung und reißen anderes Geäst mit sich zu Boden. Wie Streichhölzer liegen die abgestorbenen Tannen dort im Marsch. Man sieht auch die Schleifspuren und Wege des Bibers. Er bahnt sich seine Pfade durchs dichteste Unterholz, und die zurückbleibenden Baumstümpfe ragen wie Speerspitzen aus dem Boden. Der Anblick des Biberbaus ist faszinierend – was der Biber dabei anrichtet, ist ebenfalls faszinierend, aber es ist nicht schön.
»Du fängst ihn besser schnell, bevor er uns die großen Birken hinterm Teich umlegt«, lache ich.
»Das wird mein erster erlegter Biber sein«, sagt Jim fast stolz. »Gott, ich muss heute Abend meine Bücher übers Fallenlegen durchsehen.«
Ich habe noch nie einen Biber gesehen, und ich bitte Jim, mich beim Fallenlegen mitzunehmen.
Am nächsten Morgen holt Jim mich mit dem Gator ab. Auf der Ladefläche liegen eine Rolle mit dünnem, grünem Draht, eine Säge, ein Hammer, Ketten und ein rechteckiges Eisengestänge – die Genickbrecherfalle. Wir fahren ans hintere Ufer des Teichs, wo die Böschung nur spärlich bewachsen ist. Ich betrachte Jims Handgriffe wie ein Lehrling, der seinem Meister bei der Arbeit zusieht. Er sucht den Pfad des Bibers durch die entlaubte Böschung, man kann ihn an den bereits abgefressenen Baumstämmen erkennen. Der Biber hat einen oder mehrere Zugänge zum Wasser, an einen von
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