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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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verschlossen, unerreichbar und konnte mich noch nicht besonders gut integrieren. Die Integration schien etwas zu sein, das ich nie verstehen würde, ich verstehe sie bis heute nicht. Statt mich in eine Gruppe einzufügen, trenne ich mich von ihr wie Öl von Wasser. Doch durch diese Berliner Familie hatte ich die Möglichkeit, einen Anschluss ans Stadtleben zu finden. Ich lernte in sehr kurzer Zeit sehr viele Deutsche kennen und bemerkte, dass sie viel, gerne und laut lachten.
    Den Sommer, bevor die Schule begann, verbrachte ich in Berlin. Mit dem alten Fahrrad meiner Schwester radelte ich durch die Stadt. Ich setzte mich in Cafés und las oder schrieb in mein Notizbuch. Oft hatte ich das Gefühl, dass mich die Menschen um mich herum musterten, mich begutachteten wie einen fremden Vogel. Ihre Blicke schienen zu fragen: Wo sind denn deine Freunde? Kann aber auch sein, dass ich es mich selbst fragte. Ist man alleine, fällt einem auf, dass der Mensch ein ausgebildetes Gruppenverhalten pflegt.
    Es machte mir nichts aus, alleine zu sein, Berlin ermöglichte mir den Zugang, indem es mich abtauchen ließ.
    An meinen ersten Schultag erinnere ich mich nicht. Aber ich erinnere mich an den dritten Schultag. Da wurde ich nämlich in das Büro des Direktors gerufen. Ich ahnte etwas ganz Böses. Mit trockenem Mund setzte ich mich ihm gegenüber. Was jetzt kam, überstieg meine Vorstellungen. Der Direktor sah unglücklich aus, er spielte auch nicht wie beim letzten Mal mit dem Füllfederhalter, sondern legte die Hände gefaltet auf seine lederne Schreibunterlage. Mir wurde schlecht, weil ich wusste, da stimmte etwas nicht.
    »Es gibt ein Problem«, begann er.
    Ich wartete.
    Der Direktor suchte krampfhaft nach einer Formulierung, die sich so wenig erniedrigend wie möglich anhörte, um mir mitzuteilen, dass ich in der zwölften Klasse gar nicht zugelassen sei. Alle meine Zeugnisse würden vorweisen, dass ich bis zur 10. Klasse zur Schule gegangen sei, ich also in die elfte Klasse zurückgestuft werden müsste. Er sprach von einem Schulsenator und dass er ihn selbst nach einstündigem Gespräch nicht anders hätte überzeugen können.
    Mir blieben die Worte im Hals stecken. Ich hatte überhaupt nie überlegt, dass ich ja die elfte Klasse in meiner Schullaufbahn vollkommen ausgelassen hatte. Statt zur Schule zu gehen, war ich doch in Littenheid gewesen, hatte im Café gearbeitet. Diese Zeit schien mir nun, da ich genauer darüber nachdachte, wie ein schwarzes Loch in meiner Erinnerung. Tatsächlich gehörte ich in die elfte Klasse – ich war völlig verwirrt. Aber in wenigen Wochen wurde ich neunzehn, und dieser Mann versuchte mir zu erklären, dass ich fortan mit Sechzehnjährigen …! Ich verstand nichts, vor allem verstand ich nicht, warum der Schulsenator die Macht besaß, über mein Schicksal zu entscheiden.
    »Ich kann Sie nicht weiter in der Zwölften lassen. Sie müssen Ihre Sachen packen und rüber ins andere Schulgebäude – dort finden Sie im Zimmer 22 die elfte Klasse.«
    »Wie? Jetzt sofort?«, war das Einzige, was ich erwidern konnte. Der Direktor legte seine Handflächen nebeneinander auf den Tisch und sagte, als habe ihn der Schulsenator am Schlafittchen: »Ja.«
    Fassungslos, einen Kloß im Hals, die Verzweiflung überall in und an mir, wankte ich zurück ins Klassenzimmer. Vor aller Augen packte ich meine Sachen. Die Schüler, mit denen ich vor 48 Stunden Bekanntschaft gemacht hatte, sahen mir nur mitleidig hinterher, als ich mich aus gegebenem Grund verabschiedete. Mir war klar, dass ich es keine drei Jahre auf der Schule aushalten würde. Drei Jahre waren ein Jahr zu viel. Wie es für mich typisch ist, dachte ich auf meinem Gang ins andere Gebäude an die beiden Extreme: Leben oder sterben. Leben bedeutete, jetzt und hier wegzulaufen. Sterben bedeutete, mich widerstandslos meinem Schicksal zu fügen. Ich entschloss mich, wie es für mich typisch war, zu sterben und ging weiter.
    Schule war immer schlimm gewesen, aber dies war der schlimmste Vormittag meines Lebens. Gegen die persönliche Erniedrigung, die ich in jenen Stunden erfuhr, war das körperliche Leiden der Magersucht Zuckerschlecken gewesen.
    Ich konnte den Kindern der elften Klasse nicht verübeln, dass sie mittags noch bei Mami am Esstisch saßen und ihr von der Schule erzählten. Ich konnte ihnen nicht verübeln, dass sie, seit sie sieben Jahre alt waren, im gleichen Feldhockey-Club spielten. Diese Pferdchen trabten einfach brav im Kreis, so, wie

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