Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
den Akten wurde sofort notiert, ich leide unter Realitätsverlust.
Zu dem Zeitpunkt war ich elf.
SCHULPSYCHOLOGISCHER BERATUNGSDIENST IM BEZIRK MEILEN
streng vertraulich!
Schulpsychologischer Bericht
FIS – Zuweisungsantrag
Im Einverständnis aller Beteiligten der Schulpflege stelle ich den Antrag, Louise Jacobs als Sonderklassen-D-Schülerin im Rahmen der Integrativen Schulung von Kindern mit Schulschwierigkeiten der FIS-Gruppe von Herrn Ph. Dietrich zuzuteilen. Louise wurde in den vergangenen drei Jahren von Fachstellen (Ophthalmologische Tagesklinik, St. Gallen, Mathematiklabor Zürich, Logopädische Abklärungsstelle der Universität Zürich sowie eine Logopädin) untersucht.
Trotz mehrerer Therapieangebote, welche darauf angelegt waren, mit unterschiedlichen Ansätzen und Techniken die kognitiven Ausfälle und Wahrnehmungsdefizite abzubauen bzw. zu kompensieren, konnte bisher der erhoffte Therapiedurchbruch nicht erzielt werden. Zurzeit tritt bei Louise in immer stärkerem Ausmaß ein Gefühl von Überforderung und des »Nicht-genügen-Könnens« auf. Das schulische Selbstvertrauen schwindet derart, dass sich das Mädchen nichts mehr zutraut. Anlässlich der ersten Besprechung gab ich die Empfehlung, Louise bis Ende der Primarschulzeit in Rechnen und Sprache der FIS-Gruppe zuzuteilen.
Herliberg, 28. Oktober 1993
Der Berater: Dr. C. Krieger
Den sozialen Anschluss zur Klasse hatte ich schon seit längerem verloren. An mir haftete etwas, das mich gegenüber meinen Mitschülern herabstufte. Es war diese Schwäche. Sie zwang mich nun auch noch dazu, in den Keller des Schulgebäudes hinabzusteigen, um bei Herrn Dietrich mit all denen zu sitzen, die offensichtlich nur halbschlau waren. Ich zählte dazu und hasste es. Manchmal blieb ich einfach nach dem Klingeln zur Deutschstunde in meiner Klasse sitzen, bis Herr Dietrich persönlich kam, um mich abzuholen.
Ab in die Zelle!
Ausgerechnet Deutsch. Wo ich doch so intensiv das Lesen trainierte und auch immer besser wurde. Abend für Abend las ich vor dem Einschlafen in meinem Bett. Ich las ein Buch nach dem anderen, und das Schönste war, wenn ich mit meinen fünf Geschwistern im Kreis um meine Mutter herumsaß, die uns vor dem Zubettgehen aus Pipi Langstrumpf, Pan Tau, den Kindern aus Bullerbü oder Michel aus Lönneberga vorlas. Bücher waren in unseren Kinderzimmern so selbstverständlich wie Kuscheltiere im Bett.
Frau Godenschweig hatte ihren Auftrag nach mehreren Monaten der aus ihren Augen sehr erfolgreichen Behandlung erfüllt. Ich besuchte nun einmal wöchentlich Frau Fink, und an die Stelle von Frau Godenschweig trat Frau Bernegger. Sie behandelte in einem Hexenhaus in Zollikerberg mit grüner Haustür und vergitterten Fenstern. Immer wenn ich den Klingelknopf drückte, betete ich zum lieben Gott, die Tür möge nicht aufgehen. Immer ging sie auf. Der Geruch von staubfreier Sauberkeit, Kiefernholzmöbeln mit rauher Stoffbespannung und Gymnastikbällen in Rot und Grün wehte mir entgegen. Frau Bernegger arbeitete nach einer brandneuen Methode aus Amerika, bei der man ein imaginäres Tortenstück überm Hinterkopf plazierte. Mit diesem »dritten Auge« sollte ich meine Texte lesen, um die Rechtschreibfehler zu erkennen. Ebenjene Methode sah es auch vor, die Buchstaben des Alphabetes mit bunter Knete zu kneten oder sie an imaginäre Wände zu malen. Alle sechsundzwanzig Buchstaben musste ich in der umgekehrten Reihenfolge lernen. Da aber diese Methoden gerade erst neu aus Amerika in der Schweiz eingetroffen waren, fühlte sich Frau Bernegger in der ganzen Arbeit noch nicht sattelfest. Und wie sich später herausstellte, litt sie sogar selbst an einer Dyskalkulie. Vielleicht verwies sie mich deshalb zur vertiefenden Therapie auch an einen Spezialisten in Hamburg.
Ich reiste also mit meinem Vater nach Norddeutschland. Morgens Therapie, nachmittags Therapie. Eine Woche lang Bälle auf einem Bein jonglieren, das Alphabet rückwärts aufsagen, Texte lesen, kneten, den Rest erinnere ich nicht. Das Ergebnis des Ganzen erinnere ich ebenfalls nicht – nur, dass meine Eltern fortan Briefe aus Hamburg bekamen mit der Anrede: Liebe Freunde, liebe Legasthenikerfamilien … und ich erinnere die Folgen.
Diese Therapie sah nämlich einen streng einzuhaltenden Strategieplan vor.
Üben:
1. Jeden Tag, am besten vor dem Frühstück, die Feineinstellung des Orientierungspunktes finden und festigen. So konnte ich, gewappnet mit einem imaginären
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