Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
fünfmal zu Hause oder im immer gleichen Kino an, um mir noch mal und noch mal jede Szene ganz genau anzuschauen. Ich verliebte mich in Schauspieler und Geschichten über die Freiheit und das Wildsein. Bei Braveheart musste ich am Ende immer weinen, weil mich dieser »Schrei nach Freiheit« mitten ins Herz traf. Ich verfolgte gierig die Landschaftsaufnahmen in Aus der Mitte entspringt ein Fluss und fand heraus, dass der Schauplatz in Montana lag. Irgendwas an diesen Bildern faszinierte mich, und der Westen Amerikas manifestierte sich in meinem Gehirn als ungezähmter Ort. Ich las Bücher über die Reise nach Out West, und mehr und mehr stellte ich mir Montana als einen Ort vor, an dem es niemanden gab, der mich analysieren oder herausfinden wollte, ob ich mit der Gesellschaft würde konfigurieren können, wenn ich dieses und jenes Training absolvierte. Dort gab es nur die Natur – der einzige Ort, an dem ich mich geborgen fühlte.
Manchmal konnte ich mich tagelang nicht aus dieser Traumwelt befreien. Ich badete in den Vorstellungen von Luft, Wetter, Flüssen, Nebel, Gräsern, Wolken und Gebirgen, ich stellte mir vor, wie ich in einer Holzhütte in ebenjener Umgebung leben würde, mein Pferd in einem Korral wüsste und beim Schein einer Öllampe schrieb und las.
Abend für Abend zog ich mich in mein Zimmer zurück, gab mich meinen Sehnsüchten hin und notierte meine Gedanken. Ich dachte über die Welt, in der ich lebte, nach. Warum war ich ausgerechnet in der Schweiz gelandet? Ich dichtete mir Flügel an, ich kreierte meine eigene Freiheit, schrieb meine Träume nieder. Träumen war, neben all den Dingen, die ich nicht konnte, etwas, das ich sehr gut konnte.
An einem dieser Nachmittage, an denen ich knietief in meiner Sehnsucht nach Montana oder Argentinien stand, klang der Ruf meiner Mutter durchs Haus, ich müsse los, zur Nachhilfe. Ich hatte keine Lust auf das enge Zimmer des Französischlehrers, auf diesen harten Stuhl, auf diesen quadratischen Garten, der vor dem Fenster des ebenerdigen Zimmers klebte. Ich hasste das Geräusch, das entstand, wenn der ältere, dickliche, durchweg in Blassblau gekleidete Nachhilfelehrer seine Halter-Bonbons zwischen seinen Backenzähnen ganz langsam zerkaute.
»Du musst los!«
Mit etlichen Verwünschungen stieg ich auf mein Rad. Ich trat heftig, vornübergebeugt, in die Pedale, die Schultasche rutschte mir vom Rücken und knallte gegen den Lenker. Außer Atem erreichte ich die Kreuzung mit dem Stoppschild und dem breiten weißen Balken auf der Fahrbahn. STOPP. Ich fuhr darüber, schmiss das Fahrrad mitten auf der Straße hin, kickte gegen den grauen Reifen, dass es nur so schepperte, und rannte mit enger Kehle den Berg zur Nachhilfe hoch. ›Ich geh da nicht hin. Ich geh da nicht hin! Mir ist alles egal, soll doch jemand das Rad zur Seite räumen! Mir ist egal, wenn meine Mutter schimpft. Mir ist alles egal! Ich geh da nicht hin!‹
Und ich ging auch nicht hin. Es fing an zu regnen. Ich ging weiter, an dem Haus des Nachhilfelehrers vorbei bis hoch an den Waldrand, vor dem ein noch unbebautes Feld lag. Das Gras reichte mir bis zur Hüfte, mit nassen Händen watete ich hindurch und ließ mich irgendwo in der Mitte auf den Rücken fallen. Der Regen kitzelte mein Gesicht. Sofort war die Sehnsucht wieder da. »Ich brauche mehr Raum.« Ich streckte meine Arme zur Seite und fühlte mich leichter. Der Regen schmeckte köstlich, ich schloss die Augen. Grashalme knisterten, und meine Gedanken trieben fort.
Ich saß auf einem schnellen Pferd und jagte über die Steppe.
Irgendwann hielt ich die Vorstellung des wartenden Nachhilfelehrers, der längst zum Telefonhörer gegriffen hatte, um meine Mutter anzurufen, nicht mehr aus.
Es war so mit diesen seltenen Momenten der Freiheit, sie hielten nie lange an, und ich wurde spätestens in der Schule, zu Hause oder bei der Logopädin daran erinnert, dass die Welt, in der ich lebte, nichts mit meiner Traumwelt zu tun hatte.
Auf dem Weg nach Hause sah ich, dass tatsächlich jemand das Rad an den Straßenrand geräumt hatte. Ich hob es auf und schob es neben mir her. Wieder zu Hause, verschwand ich durchnässt und tonlos auf meinem Zimmer. Ich erwartete, dass jemand an meiner Tür klopfte. Ich erwartete die Worte meiner Mutter: »Hast du eine Erklärung dafür?« Ich verkroch mich irgendwohin und genoss das Gefühl, die Kraft aufgebracht zu haben, die Nachhilfe zu schwänzen.
Dann rief meine Mutter. ›Mir ist alles egal‹, redete ich mir
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