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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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Handgelenk gewickelt war, an meinen Körper gepresst. Meine Augen schlichen den Gehweg entlang, an dem Krüppel mit nur jeweils einem Arm oder Bein kauerten und mich mit ihren rotgeäderten Augen anstarrten. In Fetzen gehüllt lag dort auch eine Frau, stumm wie ein Geist oder ein krankes Tier. Alle Menschen zogen auf der belebten Straße an ihr vorbei. Ich riss meine Blicke von ihr und rief stumm nach den Pferden und der endlosen Landschaft, sehnte mich nach dem großen Himmel.
    Auch später am Tag nahm die Hitze nicht ab. Wir schlenderten fast endlos durch die Viertel, bis wir uns in den Rücksitz eines der Millionen Taxis sinken ließen. Die Fenster unseres Wagens waren heruntergelassen, ich sah eine Gruppe Jugendlicher am Straßenrand sitzen. Ein Junge etwa in meinem Alter erhob sich und kam auf unser Auto zugelaufen. Wie tausendmal wiederholt, leierte er die Worte herunter. Ich lugte zu ihm hoch. Er wedelte mit in Plastik verpackten Buntstiften und streckte die freie Hand immer wieder bettelnd aus. Minutenlang dauerte sein Gerede an, dann hielt er seinen Mund. Verstummt. Ich sah ihn immer noch an. Kaum atmen konnte ich, die Luft verstopfte meine Lungen. Noch einmal begann der Junge zu reden. Ich sah zu meinem Onkel, der in Anzug und Krawatte neben mir saß. »Sorry, I don’t understand«, sagte er, ohne den Blick von seinen Händen zu heben, die vor ihm auf dem Aktenkoffer ruhten. Wieder bettelte der Junge um Geld, doch mein Onkel fiel ihm ins Wort. Er wiederholte nur den immer gleichen Satz.
    Langsam begann ich zu begreifen, dass ich Armut und menschliche Erniedrigung noch nie unmittelbar erlebt hatte. In der Schweiz sah man keine Jungs in meinem Alter, die Filzstifte verkauften, weil sie Geld für Essen brauchten. So was gab es bei uns im Paradies nicht.

14
    De r Tag beginnt mit Schneegestöber. Francis begrüßt mich nach einem Blick auf meine Kleidung mit den Worten: »So kalt ist es doch noch gar nicht!« Er lacht. Auch heute trägt er wieder ein blaues Hemd und Krawatte. Seine hellen Reithosen haben Bügelfalten, und die braunen Stiefel sind geputzt.
    Ich muss auch lachen. »Aber heute Morgen war es unter null! Muss mich eben noch akklimatisieren.«
    Wir reiten mit zwei Braunen aus. Der kleinere, auf dem ich sitze, heißt Giovanni, der lange große, auf dem Francis reitet, heißt Walther.
    Im Wald ist es still. Nur die Schritte von Walther und Giovanni im knöcheltiefen Laub durchdringen das Schweigen der Bäume. Kein Vogel singt, kein Wind geht, es fällt kein Regen, und auch kein Schnee mehr, es ist, als gingen wir durch längst verlassene Räume eines alten Hauses. Hier und da stehen nur noch ein paar Gegenstände herum: Quer und über Kreuz liegen umgestürzte Baumstämme. Astgabeln, die von Birken abgebrochen sind, hängen in fünf Metern Höhe auf Ästen der kahlen Ahornbäume, kurios geformte Baumruinen liegen oder stehen, vom Blitz geköpft, herum. Ich kann die Abhänge und Felder, die Täler und Berge sehen, die einem im Sommer hinter dem undurchdringlichen Blätterwerk verborgen bleiben. Die Natur ist dabei, sich auf den Winterschlaf vorzubereiten. Wir reden nicht viel. Die Pferde kauen auf ihren Gebissen und fangen nach einer Stunde trotz der Kälte an zu schwitzen. Wir machen eine lange Schrittpause. Giovanni geht am langen Zügel. Ich genieße die Stille, schaue in den Wald.
    An der nächsten Kurve taucht aus dem Nichts ein Mann auf, der einen so langen Bart hat, dass seine Gürtelschnalle von dem weißen Haar verdeckt ist. Er trägt einen verformten Hut und einen mächtigen Mantel. Die Pferde spitzen die Ohren, und Giovanni bleibt stehen und schnaubt, als uns die Gestalt grüßt.
    »Was für ein herrlicher Tag«, sagt der Mann.
    Dem stimmen Francis und ich zu. Und da ist der Langbärtige schon wieder im Wald verschwunden.
    »Manche Menschen sind merkwürdig.« Francis reitet weiter.
    »Vielleicht dachte er dasselbe von uns. Weißt du, so würde ich auch aussehen, wenn ich dreißig Jahre im Wald leben würde.«
    Francis dreht sich nach mir um: »Ich würde dich trotzdem noch mögen.«
    »Aber du würdest mir doch sagen, dass ich mal den Bart stutzen müsste, oder?«
    Francis lacht. »Gibt es da etwas, das ich noch nicht weiß?«, grinst er und fängt an zu traben. Ich kitzle Giovanni mit meinen kurzen Sporen, und im leichten Trab reiten wir die Straße hoch. Wir kommen an eine Kreuzung, nehmen die Zügel kürzer und lassen die Pferde in Schritt fallen. Rechts am Straßenrand stehen

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