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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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Unterricht und nahm mir meinen CD-Player weg, was zu einer kleineren Auseinandersetzung führte. Wütend und todtraurig kam ich am dritten Nachmittag nach Hause. Ich war so verzweifelt und vom Fernweh gequält, dass ich meine Mutter anflehte, mich für den Rest der Woche krankzuschreiben. Schwammendingen war schlimmer als alles, was ich von der Umgebung Zürichs bisher zu Gesicht bekommen hatte, die Lehrerin hasste mich, und ich wurde von meiner Trauer und Wut schier erdrückt. Tatsächlich fand meine Mutter meinen Zustand so besorgniserregend, dass ich für den Rest der Woche freigestellt wurde – ein Wunder!
    In dieser Zeit machte sich meine Mutter auch abgesehen von dem Vorfall im Hauswirtschaftsunterricht Sorgen um mich. Heute würde man mir Ritalin oder Antidepressiva verschreiben – damals undenkbar. Meine Mutter wandte sich an meinen Klassenlehrer, Herrn Etter, und erläuterte, dass ich mich mit der Tram in Zürich immer verfahren würde, zu spät zu Terminen käme, meine Aufgaben nicht schaffen würde, verschwiegen und unansprechbar sei und verloren wirke. Herr Etter war für viele Schüler und Eltern die letzte Anlaufmöglichkeit.
    In meiner Klasse begannen viele zu rauchen, zu kiffen und zu trinken. Mit knapp dreizehn fing man an auszugehen und Doc Martens zu tragen. Die Mädchen trugen Kleider aus zweiter Hand, die nach Deodorant und zweiter Hand rochen, die Jungs zogen ihre Jeans auf die Hüftknochen runter. Wir setzten uns in der bittersten Kälte auf den Steinboden einer Unterführung am Bahnhof, reichten einen Joint herum und warteten auf den Rausch.
    Ich weiß nicht, wann es in der Gesellschaft, die mich umgab, anfing, dass man junge, suchende Kinder »Pubertierende« genannt hat. Vielleicht ist es ein Phänomen der Urbanität und eine Folge der Zivilisation. Ich stelle mir die Zivilisation wie die Begradigung eines Flusses vor. Zivilisierte Menschen rammen Spundwände in die Erde, um das Wasser so zu leiten, wie sie es wollen, weil ihnen sein natürlicher Lauf zur Bedrohung werden kann.
    Junge Menschen stellen eine Bedrohung für Erwachsene dar, und daher setzt man sie so früh wie möglich auf die richtige Schiene. Auch mich hatte man auf eine Schiene gesetzt, aber diese Schiene lag mir einfach nicht. Ich identifizierte mich mit Welten, die jenseits der gesellschaftlichen Gleise lagen. Ich spürte den unausweichlichen Drang, die vorgeschriebene Spur zu verlassen, weil ich nur so an meine Träume gelangen konnte.
    Das Schreiben wurde mein Ventil. Cowboys pflegen über ihre Pferde zu sagen, dass sie ihre besten Freunde sind, weil sie keine Frage stellen und keine Antwort verlangen und sich in einen Monolog nie einmischen würden. Ähnlich ging es mir beim Schreiben. Das Papier verlangte keine Erklärungen, ich schrieb nieder, wer ich wirklich war, und das Papier akzeptierte meine Selbstreflexionen stumm. Keine Frau Bernegger konnte an dieser Aussage zweifeln, kein Lehrer konnte meine krummen Formulierungen mit rotem Marker einkreisen. Die Worte beschrieben meine ganz eigene Sicht auf die Welt. Ich versah die Notizen mit einem Datum und heftete sie ein. Sie stapelten sich zu meinem Geheimnis, hüteten meine wahre Identität. Ich war nicht schwach – ich lebte einfach im falschen Umfeld. Der Schluss, den ich daraus zog, war: ich musste fliehen.
    Um mir selbst eine Vorstellung davon zu machen, wie meine Flucht aus der Schweiz aussehen könnte, begann ich mit vierzehn mein erstes Buch zu schreiben. Ich erzählte mir die Geschichte von einem Jungen, der von zu Hause ausriss, um nach Montana zu reisen und dort auf einer Ranch zu arbeiten. Jeden Abend setzte ich mich hin, um weiterzuschreiben. Neben den Notizen, die ich machte, war die Fertigstellung meines ersten Buches eine für mich durchaus lösbare Aufgabe, die ich mir stellte. Der Einzige, der Interesse an meinem Vorhaben zeigte, war mein damaliger Klassenlehrer.
    Ohne Herrn Etter hätte ich dieses letzte Jahr in Zürich kaum überstanden. Für mich ist heute unvorstellbar, dass Herr Etter nur zehn Jahre älter war als wir damals. Nicht nur für mich, auch für viele andere Schüler war er die einzige akzeptierte Autoritätsperson. Er war einer von uns. Herr Etter interessierte sich für die Literatur, die ich las, unterhielt sich mit mir über den Nihilismus und führte geduldig Unterhaltungen über Leben und Tod. Er trug mir auf, ihm schriftlich zu erklären, wer ich war, ließ mich Aufsätze schreiben und bat darum, meine Musik hören zu

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