Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
ein und blieb sitzen.
Die Folge dieser Unternehmung war, dass sie die einzige und letzte ihrer Art blieb. Meine Mutter sah mich eindringlich an und erklärte mir, wie sehr sich der Nachhilfelehrer um mich gesorgt habe. Vielleicht war die Drohung: Entweder Französischnachhilfe oder kein Reiten mehr! Vielleicht waren es auch die schlechten Noten. Fortan ging ich immer zur Französischnachhilfe.
Und heute glaube ich, dass ich dem Nachhilfelehrer damals unrecht tat. Als ich das Land ein Jahr später verlassen sollte, um, wie ich glaubte, nie mehr wieder zurückzukehren, schenkte mir ebenjener Herr, der die Bonbons in den Backen kaute, ein Buch über die Stilkunst der deutschen Sprache. Ich besitze es heute noch, lauter Zettel kleben darin, Bleistiftanmerkungen und Striche habe ich auf fast jeder Seite hinterlassen.
Ich las, statt mich mit Freunden zu verabreden. Ich schrieb lieber und hörte Musik, als am Samstagabend auszugehen. Ich ging lieber alleine ins Kino – auch dreimal in denselben Film. Zu Hause sah ich mir auf dem einzigen Fernseher, spätnachts, wenn keiner störte, einzelne Filmszenen von Videokassetten immer und immer wieder an.
Und ich stieß auf Camus.
Camus habe ich mit vierzehn entdeckt und mich in seine Literatur vergraben. Ich stieß auf diesen Autor, weil ich nach und nach die Bücher musterte, die meine Mutter am Eingang auf dem Tisch stapelte, um sie an Freundinnen zu verschenken. Auch in der Küche lagen Bücher, im Wohnzimmer, in ihrem Schlafzimmer, auf der Kommode und auf dem Klavier. Hatte ich früher nicht weiter drauf geachtet, zogen sie nun immer öfter meine Aufmerksamkeit auf sich. Das von meiner Mutter Gelesene und für gut Befundene wurde mehrfach im Buchladen bestellt und im Bekanntenkreis verteilt. Der Erste Mensch von Camus geriet auf diese Weise in meine Hände. Als ich eines Nachmittages von der Schule kam, lagen auf dem »Posttisch« am Eingang neben Briefen, Zeitungen und Zeitschriften mehrere Ausgaben davon in ihren roten Umschlägen. Es muss der Titel Der Erste Mensch gewesen sein und das Porträt, das in grobkörnigem Schwarzweiß auf das Cover gedruckt worden war – ich griff mir das oberste Buch vom Stapel und nahm es mit auf mein Zimmer. Das Foto dieses Mannes faszinierte mich: eine selbstgedrehte Zigarette im Mundwinkel, blickt er ein bisschen lächelnd, ein bisschen traurig, ein bisschen weltfremd und ein bisschen lässig. Die locker zurückgekämmten Haare legen die hohe Stirn frei. Die Wangen sind eingefallen. Jeder Absatz, den ich in diesem autobiographischen Roman über Camus’ Kindheit las, spiegelte den Zustand meiner Seele. Dieser algerische, fußballspielende Junge wurde mein Alter Ego. Ich fand in ihm die Auseinandersetzung mit dem Heranwachsen, dem Tod und einer existenziellen Suche – für Camus war es die Suche nach dem Vater. Ich suchte nach Freiheit.
Ich las auf dem Weg zur Schule und auf dem Weg nach Hause. Von nun an lebte ich in Algerien, während ich, ohne nach rechts oder links zu gucken, die Züricher Straßen überquerte und hoffte, ein Auto möge kommen und mich überfahren. Im Alltag tat ich, was ich tun musste. Mathematikklausuren gab ich oft mit nur einer gelösten Aufgabe ab und steckte die schlechte Note dafür emotionslos ein.
Je länger ich an einer Algebra-Aufgabe saß, umso komplizierter wurde sie. Während die anderen den direkten Weg zur Lösung fanden, dachte ich um fünf Ecken herum. Die Zahlen hüpften auf dem Papier in beliebigen Reihenfolgen, und ich konnte mir am Ende meiner Rechnung nicht erklären, wie ich auf ein völlig krummes Ergebnis gekommen war. Zahlen waren in meinen Augen eindimensional und tolerierten keine Phantasie. Während ich mit ihnen versuchte zu operieren, schlich ich durch den Hinterhof von Jacques’ (so nennt Camus sein Alter Ego in dem Roman) Wohnhaus, der erfüllt war mit den Gerüchen von dem Federvieh, das dort lebte, seinem Kot, der feuchten, schimmligen Erde und dem Stein, der noch nie einen Sonnenstrahl abbekommen hatte. Ich dachte an dieses goldene Licht auf den algerischen Straßen, das vom Staub der Wüste durchzogen war, und den Geruch des Meeres, das immer nicht weit sein konnte.
Ich gab mich diesen Vorstellungen hin, starrte ab und zu auf das Papier vor mir und konnte die Klausur nicht bewältigen. Alles, was mir aus den schwarzen, aufgedruckten Zahlen entgegenschlug, war Häme.
Ich trotzte dieser Häme, indem ich weiter meine Jungskleidung trug und aufhörte, meine Haare zu
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