Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
versuchte zusammenzufassen, benötigte ich dann fast noch mal so lange. Ich fragte mich, warum ich eigentlich keinen Kunst-Kurs gewählt hatte.
Ich schrieb Aufsätze, machte Prüfungen, fertigte Projektarbeiten an, lernte völlig neue Formeln der Mathematik und stellte fest, dass mein Französisch, wofür ich in der Schweiz noch zur Nachhilfe musste, bei weitem besser war als das meiner amerikanischen Mitschülerinnen. Ich tat alles, um eine gute Schülerin zu werden, das war Teil meines Plans, mich zu einem neuen Menschen zu machen und meine schulischen Schwächen abzulegen. Wo ich mich ebenfalls bewähren konnte, war im Sport. Ich liebte das kämpferische Feldhockey, mit Mundschutz und Körpereinsatz – da kam mal wieder der Junge durch.
Die körperliche Leistung, zu der ich mich zwang, ließ mich die leichte Schieflage mit Mike vergessen. Gleichzeitig quälte mich die Frage, warum ich mich nicht von ihm anfassen lassen konnte? Warum tat ich nicht, was alle anderen mit ihren boyfriends taten? Seltsam, dass ich für die Beziehung mit Mike nur diese romantischen Gefühle empfand. In meiner Vorstellung von Liebe kam der Sex überhaupt nicht vor. Sex stellte ich mir vielmehr wie einen Gewaltakt vor. Für den Menschen, den ich liebte, wollte ich Gedichte schreiben, ich wollte mich nach ihm sehnen, mich stundenlang im Mondschein mit ihm unterhalten, still an seiner Brust liegen und einen gleichmäßigen Atem fühlen. Aber das schien mit Mike gar nicht mehr möglich zu sein. Wir unterhielten uns über Footballtraining, über Footballtrainer oder über Footballspiele. Wenn ich ihm etwas erzählte, hörte er stumm zu und sagte dann: »Was du dir alles für Gedanken machst …«
Ja, ich machte mir Gedanken.
Ich dachte vor allem über mich selbst nach und spürte dabei, dass ich hier in Vermont Academy selbst Herr meiner Person war. Fern von der täglichen scharfen Beobachtung meiner Eltern und der Therapeuten tat ich, was ich wollte. Ich aß nicht, wenn ich nicht wollte, ich rannte, vor und nach dem Training, ich fand mich nicht mehr damit ab, schlechter als die anderen zu sein, ich wollte besser, leistungsstärker, schneller, härter sein als die anderen Mädchen. Ich kostete von dem Gefühl, an meine Grenzen zu gehen und konnte bald nicht mehr genug davon bekommen. Beim Hockey spielte ich auf dem linken Flügel und ging meine Gegnerinnen an, als seien sie das schwächere Ebenbild von mir, das Ich, das es zu vernichten galt. Die neue Louise sollte in allem gut sein. Ich wollte das Lob meiner Trainerin um jeden Preis.
Der Sommer schien Jahre zurückzuliegen, und die Nächte wurden frostig. Ich begann zu frieren. Mitte Oktober beschlich mich ein grausiges Gefühl der Beklemmung und der Appetitlosigkeit. Nach drei Monaten Vermont Academy wurde das steingraue Geäst mit der grün gemaserten Rinde, die bizarren Formen der Bäume, die den Campus überall umgaben, immer deutlicher sichtbar. Die grünen Fichten hinter dem Hockeyfeld oberhalb der Dining Hall stachen nun zwischen den teils entlaubten Birken und Eichen hervor, der Boden war übersät von Ahornblättern in allen erdenklichen Feuerfarben. Nebel lag morgens über den Straßen und über meinen Gedanken. Wie sollte ich mit Mike weitermachen? Sex in einem Winkel dieses Gefängnisses zu haben war undenkbar für mich. Aber auf die Farm konnte ich ihn auch nicht mitnehmen. Meine Eltern fürchteten vielleicht die Konsequenzen einer gemeinsamen Nacht. Der am Telefon erwähnte Grund war aber ein anderer. Was, wenn er sich dort das Bein bricht? Dann würde mein Vater möglicherweise von Mikes Eltern verklagt, und alles würde fürchterlich werden. Ich brachte es nicht übers Herz, meine Eltern zu hintergehen – und so fuhr ich weiterhin an den Wochenenden alleine nach Birch Hill.
Gegenüber Mike fiel es mir immer schwerer, meine Gedanken zu formulieren, und ich merkte, dass sein Einfühlungsvermögen beschränkt war. Ich konnte über seine und die Witze seiner Freunde nicht mehr lachen.
Jesse muss bemerkt haben, dass ich mit Mike nicht mehr besonders glücklich war, und er fragte mich eines Abends, was ich an dem Kerl eigentlich fände. Keine Ahnung, sagte ich ganz ehrlich.
Wenn mich Jesse mit seinen hellblauen Augen ansah, mich auf dem Long Walk grüßte, meine Hand hielt und meine Finger zu studieren schien, fühlte ich eine Nähe zu ihm, die mich glauben ließ, mit ihm viel lieber zusammen sein zu wollen als mit Mike. Er war immerhin ein Skater. Er hatte Tattoos,
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