Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
zwischen acht und zehn? Mathematik. Ich ging am Post Office vorbei ans andere Ende des Gebäudes, stieß die Tür auf und blieb stehen. Die Musik drang in meine Ohren. Die Schultasche hing auf meinen Schultern, die Bücher trug ich in meinen Armen. Mein Magen war leer, da ich nach dem Sport kaum etwas gegessen hatte, und ich war ganz zitterig vor Erschöpfung und Müdigkeit. Ich fühlte mich total alleine, und ich konnte nicht mehr. In dem Augenblick verließ mich jeder Mut, und ich glaubte vor dem Schutt meiner Kindheit, meiner Träume zu stehen. Ich hatte von der Freiheit geträumt und war in einem Gefängnis gelandet.
Wollte ich wild oder gebrochen sein? Ich versuchte zu realisieren, dass ich ein Leben hinter mir lassen musste, um in einem anderen zu bestehen. Ich war zu stolz, um aufzugeben. Ich wollte meine Eltern nicht enttäuschen, ich wollte zeigen, dass ich es auch alleine, ohne Sonderkonditionen, schaffte. Ich biss mir auf die Lippen: nicht schwach sein. Dann muss ich eben bis Mitternacht arbeiten, ich muss noch mehr rennen, noch besser Hockey spielen, noch besser in Mathe sein, noch besser in Biologie.
Vielleicht fasste ich in jener Nacht den Beschluss, mich zu zerstören, um der Vorstellung einer besseren Louise zu entsprechen. Wenn ich Leistung erbrachte, würde ich meinen Eltern endlich das Gegenteil beweisen können: Ich bin nicht dumm, ich kann auch was. Ich ging den Pakt mit dem Teufel ein und weinte bitterlich, weil ich dann kein Cowboy auf einem Wildpferd mehr würde sein können. Meinen Freiheitsdrang gab ich mit dieser Entscheidung, mich dem System zu unterwerfen, auf.
Ich ging raus, die Tür fiel zu. Ich bewegte mich noch ein Stück auf die Treppe zu und ließ mich dann heulend auf die oberste Stufe sinken.
»Alles in Ordnung mit dir?« Jemand berührte mich an den Schultern.
Ich zog die Kopfhörer runter und sah in das fahle Gesicht des Schuldirektors. Er wirkte immer wie ein hochbegabter Dreizehnjähriger mit Krawatte.
»Ja«, log ich erschrocken, »alles in Ordnung. Ich musste nur kurz nachdenken.«
»Bist du sicher?«, fragte er mit banger Stimme.
Nein, ich war mir nicht sicher, und mit mir war gar nichts in Ordnung.
»Ja, ja«, wehrte ich ab und stand auf.
»Wenn irgendetwas ist, du kannst mit mir sprechen.«
Ich versuchte zu lächeln. Ich wollte keine Hilfe mehr. Sollen sie doch endlich aufhören, immer so nett mit mir zu sein! Ich brauchte all diese gutmeinenden Helfer nicht mehr!
»Willst du reden?«
»Nein, schon gut. Schönen Abend.« Es gab ja auch nichts mehr zu sagen. Den Kopf hatte ich mir soeben abgeschlagen, nun konnte ich ihn nicht bitten, ihn wieder anzunähen.
Ich ging zurück zum Dorm und arbeitete mit grünem Tee auf dem fauligen Sofa bis halb zwei Uhr morgens.
Am nächsten Morgen traf ich Drew. Er sah mich verunsichert an – sah mich eigentlich gar nicht an.
»Was ist los?«, fragte ich, seinen Blickkontakt suchend.
Er druckste rum. »Hat Mike dir nichts erzählt?«
»Wovon redest du?«
»Aber du darfst nicht sagen, dass ich es dir erzählt habe!«
»Ich sage nichts. Spinnst du? Was soll ich denn überhaupt sagen oder nicht sagen?«
»Er will dich nicht mehr mit mir sehen.«
»Was?«
»Er kam gestern in unseren Dorm und hat mich fast zusammengeschlagen, weil Topher mich gestern mit dir in der Bibliothek gesehen hat.«
»Was?« Ich war verwirrt, warum beobachtete man ausgerechnet mich?
»Frag Jesse, er war dabei.«
»Ich kann das gar nicht glauben! Ich muss mit ihm sprechen. Das geht nicht.«
Als ich nachmittags nach dem Hockeytraining noch einmal den Sheperds Hill hochrannte, der hinter den Feldern am Rand des Campus steil am Waldrand entlang einen Berg hoch führte und eine Trainingsstrecke zum Warmlaufen war, kam ich am großen Footballfeld hinter dem Gym vorbei. Das Footballteam war das Aushängeschild der Schule, und somit trainierten die Jungs auch um 19 Uhr noch. Die Wiese war nach starken Regenfällen nur noch Matsch. Hutch trug die Nummer 89. Er rannte gegen Schaumstoffkissen, machte Liegestütze, grunzte und schnaufte wie ein Ochse. Im Simulationsspiel änderte das Team bei den Pfiffen des furchterregenden Sean Farrell – dem Coach mit dem dicken Nacken – seine Formationen wie ein Schwarm Fische. Ich blieb stehen, hüpfte von einem Fuß auf den anderen, um in Bewegung zu bleiben, und sah mir das Schauspiel ein paar Minuten an. In voller Montur kloppten sie wie die Irren ihre Helme aneinander, gaben sich »fünf«, hauten sich
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