Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
ganz in Pink gestrichen ist.
»Merkwürdig«, sage ich. »Wer kommt auf die Idee, sein Haus in Vermont pink zu streichen?«
Jim schweigt. Das Haus liegt schon wieder hinter uns, ich schaue auf wellige Wiesen.
»Vielleicht ist die Person farbenblind«, sagt Jim schließlich.
»Oder sie hat immer davon geträumt, nach Miami Beach zu ziehen und kann von hier nicht weg.«
Wir sagen nichts weiter. Die Räder schnurren über die Straße, holpern über die Holzplanken einer Brücke, zermalmen den Schotter eines Feldwegs und kommen zum Stehen.
Jim parkt den Truck am Ende eines schlammigen Pfades, der bergan in den Wald führt. Die Böschung rechts und links ist steil, die Wurzeln mancher Bäume wurden vom Regen freigespült, sie ragen wie die Klauen von Tieren in den Weg. Jim schultert sein Gewehr. Ich schließe meine Jacke.
Jim geht langsam voraus, ich hinterher. Auf seinem breiten Rücken liegt sein langer, spitz zulaufender Pferdeschwanz. Das gefütterte, rotkarierte Hemd leuchtet stumpf. Wenn Jim ein Indianer wäre und ich ein Trapper, dann müssten wir uns hier irgendwo eine Höhle für die Nacht suchen. Ich blicke um mich. Schwarze Stämme, so weit mein Auge reicht. Vertrocknetes Gestrüpp liegt wie Stacheldraht herum, die feuchte Kälte kriecht mir unter die Jacke. Und wie bloß würden wir mit dem durchnässten Holz ein Feuer in Gang kriegen?
Meine Schuhe versinken im aufgeweichten Laub, Stöcke brechen unter den Sohlen, und manchmal muss ich meinen Fuß aus dem Vakuum tiefen Schlamms ziehen. Der Himmel schimmert silbern; Stille liegt über unserem Jagdgebiet. Ich gehe in Jims Fußstapfen. Er scheint Dinge zu sehen, die ich nicht wahrnehme; die Spuren der Tiere, denen er folgt.
Hier und da zeigt er auf abgekaute Rinde, die die Elche und Hirsche mit ihren Zähnen von den Baumstämmen reißen, manchmal auf abgebrochene Zweige. Scheinbar ziellos wandern wir durch den Wald. Wir laufen an den Steinmauern entlang, die vor über hundert Jahren die Landesgrenzen der Farmer markierten, und bleiben an einem Weiher stehen. »Hier«, erzählt Jim, »habe ich früher am liebsten gesessen und die Biber beobachtet.« Mitten in dem von schiefen Tannen umgebenen See liegt der Bau des Bibers. Unter Wasser kann ich die Schatten seines Dammes erkennen. Die Stöcke und Äste formen den igluartigen Überbau des Biberhauses und bieten ein pures harmonisches Bild auf dem glatten Wasserspiegel. Drumherum sieht der Wald ausgedünnt und unbelebt aus. Manchmal kommt Wind auf, rollt wie eine Welle von weitem heran und lässt dann vor meinen Augen die letzten noch hängenden Blätter und abgerissenen Birkenrinden zittern. Meine Oberschenkel werden kalt. Die Stille umfängt mich, dass ich es nicht wage zu sprechen. Nur dadurch, dass ich versuche, keine Geräusche zu verursachen, kann ich das Schweigen um mich herum bewahren. Plötzlich zerreißt irgendwo ein Schuss die Stille. Auch Jim schaut sich um. Dann höre ich wieder nichts außer dem Knacken des Holzes, das Streifen des Gestrüpps an meinen Hosen.
Der leise Ruf einer Wildgans ertönt. Jim und ich schauen gleichzeitig zum Himmel. »Die kommen aus Kanada«, sagt Jim. Und dann sehe ich das schwarze Band, das sich gen Süden bewegt. »Und sie fliegen bis Mexiko.«
»Die wissen auch, wie sie sich ihr Leben schön machen; im Winter fliegen sie einfach in den Süden, wo’s warm ist.«
»Und sie müssen durch keine Einwanderungsbehörde.«
Ich sehe ihn an. »Da funktioniert unsere Völkerverständigung nicht halb so gut wie die Verständigung der Tiere. Ich stelle mir vor, wie die Gänse über alle Grenzen hinwegfliegen, und wir werden am Stacheldraht angehalten, mit Taschenlampen angeleuchtet, müssen Ausweise zeigen, Fingerabdrücke abgeben – und doch unterscheidet sich das Gebiet, das wir durchqueren, nicht von dem, das die Gänse überfliegen.«
»Der einzige Unterschied ist, dass sie Tiere sind und wir Menschen.«
»Die sind frei, und wir sind Gefangene.«
»Ich glaube, die Gänse sind nur deshalb frei, weil sie nicht wissen, was Freiheit ist.«
»Du meinst, weil ich mir vorstellen kann, was Freiheit ist, fühle ich mich gefangen?«
»Wenn du auf deine Instinkte hörst, dann musst du dich nicht gefangen fühlen. Dann bist du im Grunde unabhängig.«
Ich frage mich, was ich eigentlich noch an Instinkten habe. Weiß ich instinktiv, was mir guttut und was nicht? Ist das eine Frage der Zivilisation oder der Bildung? Ich glaube nicht, es scheint allein eine Frage des Willens
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