Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
völlig ausgekühlten Van und fuhren zurück auf den Campus. Dann folgte das übliche Abendprogramm.
Am 9. Dezember notierte ich in mein Tagebuch: »Ich glaube, ich habe die Kontrolle über meinen Körper oder vielmehr die Psyche, die meinen Körper beherrschte, verloren.« Ich wurde von extremen Stressgefühlen, Verzweiflung und einem beißenden Willen gesteuert. Ich wollte diesen zuckersüßen Geschmack des Erfolges kosten. So lange war ich bemitleidet worden, unterstützt worden, nun wollte ich nur noch gelobt werden. Stolz wollte ich sein. Wie war es, stolz zu sein? Was machte stolz? Ich wollte es spüren. Ich hatte diesen Willen, mich zu ändern, doch die Veränderung lief aus dem Ruder. Die Menschen, die mich umgaben, stießen mich ab, sie waren mit sich selbst zufrieden, und genau wegen dieser Selbstzufriedenheit verachtete ich sie. Ihre Blicke machten mich zornig. Ich richtete den diabolischen Zorn gegen mich, schottete mich ab und geriet noch mehr ins Abseits.
Ingrid und mehrere andere Schüler hatten für meinen sozialen Ruin gesorgt. Jesse und Drew blieben meine Freunde, aber um mich voll in Jesses Gruppe zu integrieren, dafür war ich zu schüchtern. Ich sprach wenig, und somit sprachen auch nur wenige mit mir. Selbst die Lehrer und Aufseher beäugten mich wie ein fremdes Tier, das sie nicht wagten anzufassen.
11
We ihnachten fuhr ich nach Hause in die Schweiz. Ich schlenderte zwar orientierungslos durch Zürich. Es ging mir aber recht gut dabei. Ich war im Kreis meiner Familie und versuchte den Gedanken zu verdrängen, Anfang Januar wieder in die Schule zu müssen. Die Vorstellung ließ mich verzweifeln, doch wo sollte ich sonst hin? Zurück in mein Kinderzimmer? Die Zeiten waren vorbei. Ich hatte mich so nach der Fremde gesehnt, und wenn auch Vermont Academy vielleicht noch nicht das Richtige war, so wollte ich abwarten, durchhalten, in der Hoffnung, das Richtige würde mit der Zeit schon kommen. Ich wollte lachen und diese düsteren Monate, die mir auf der Schule vielleicht noch bevorstehen würden, überwinden. Mein Versprechen lag irgendwo dahinter, also musste ich durch den Morast. Immerhin konnte ich meinen schulischen Erfolg vorweisen. Die verordnete Strenge und der Leistungsdruck schienen mir also der richtige Weg zur Anerkennung zu sein. Ich war weiterhin bereit zu kämpfen. Nach wessen Anerkennung ich mich sehnte, war mir unklar.
Meine Mutter bemerkte auch im Dezember weiteren Gewichtsverlust. Fast sechs Monate waren vergangen, ich war nicht mager, aber mir passten die Sachen, die ich in meinem Schrank zurückgelassen hatte, nicht mehr. Ich wusste, dass nichts mehr wie früher war, in gewisser Hinsicht war ich ja dabei, erwachsen zu werden und durchlief eine völlig normale Entwicklung. Aber meine Mutter machte sich Sorgen, das spürte ich, und sie stellte meinen Weg und somit mich selbst erneut in Frage. Die Kluft zwischen dem, was ich tun wollte, tun sollte und was von mir verlangt wurde, riss wieder auf. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass ich womöglich versagen und meine große Zukunft im »freien« Amerika nicht weiterleben könnte. Ich rettete mich vor mir selbst also mit den einzigen Erfolgen, die ich trotz aller Schwierigkeiten bisher verbuchen konnte: Ich war dünner und gut in der Schule.
Im Engadin fuhr ich Ski. Das Engadin war weiterhin mein einziger Wohlfühlort in der Schweiz. Nur hier wusste ich, dass die Schweiz doch meine Heimat war. Und dafür war ich sogar dankbar. Im Engadin war ich froh, Schweizerdeutsch sprechen zu können, um nicht als Ausländerin zu gelten. Ich erholte mich vom Stress der vergangenen Monate und kehrte nur schweren Herzens zurück nach Saxtons River.
In meinem kleinen Zimmer mit der Kommode, dem gemusterten Quilt auf dem Hochbett und dem Blick aus dem Fenster auf die schwarzen Kabel und Strommasten wurde ich mir wieder meines großen Traumes bewusst. So sah also mein selbstkreiertes Schicksal aus – es war schrecklich.
Weiterhin floh ich am Wochenende auf die Farm. Dort lernte ich in Jims altem Truck mit Schneepflug das Autofahren. »Pumpen! Du musst die Kupplung pumpen, sonst kommt der nicht in die Gänge. Gut. Dann kannst du jetzt die Schaufel runterlassen und Schnee schieben.« Mit den Worten lehnte er sich zurück, und ich fuhr eine Stunde über die Schotterstraßen.
Das hat Spaß gemacht. Weniger witzig waren die Fahrstunden mit der Fahrlehrerin, die zu uns in die Schule kam, sehr klein war und immer blendend weiße
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