Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
und Waffelteig gerührt. Meine Mutter packte ganze Wolfsbarsche in Salzkruste ein und schmorte vierzehn Rouladen in einem langen Kupfertopf. Die Küche war zum Glück für uns Kinder und manchmal zum Leid meiner Mutter der Mittelpunkt allen Familienlebens.
Es ist so, dass manche Speisen bei uns Tradition haben, dass ganze Abläufe in der Küche Tradition haben. So hing am Weihnachtstag, wenn der Truthahn gefüllt, zugeschnürt und in den Ofen geschoben wurde, die Laune meiner Mutter und der Segen im Haus an vielen Zentimetern Bratenschnur. Würde er zu trocken werden? Zu roh? War er mal wieder viel zu groß? Ja, passte der Vogel überhaupt ins Rohr? Und musste es dieses Jahr wieder Rotkohl sein? Es aßen ja doch immer nur alle Spätzle. Wer half beim Binden des Truthahns? Wer musste den Tisch decken? Jedes Jahr stand man vor den gleichen Fragen.
Nur den Abwasch, den machten alle zusammen, während mein Vater Platten von den Stones auflegte und wir dazu tanzten.
An Ostern spielte sich Ähnliches beim Rühren einer traditionellen Nachspeise ab. Die dickflüssige Masse aus unglaublich viel Eiern, Quark und Milch durfte ja nicht kochen, sonst gerannen die Eigelbe in der Flüssigkeit, und das ganze Osterfest wäre im Eimer.
Im Alltag stand in der Küche immer selbstgebackener Kuchen. Es gab selbstgemachte Marmelade, Kompott zum Frühstück, Hühner wurden ausgekocht, wenn es Hühnerfrikassee Bremer Art gab, und der Duft von Königsberger Klopsen aus frisch durchgedrehtem Kalbfleisch erfüllte sonntags oft das Haus. Gab es Kartoffelbrei, schöpfte man aus einem riesigen Topf die goldgelbe Masse auf den Teller. Die Sauce – mehr Sauce! – kam entweder als Teich drum herum oder als See obendrauf. Wir aßen schüsselweise Grießpudding mit Himbeersirup, Schokoladenpudding oder Quarkspeise. Beim Salat kam es oft vor, dass einer von uns auf die zweite Portion verzichten musste, da es nicht für alle reichte.
Da meine Mutter einen Haushalt von acht Personen organisierte und versorgte, gab es in unserem Haus neben einem Kühlschrank auch einen Kühlraum. Hier lagerte körbeweise Gemüse und Obst vom Bauern aus dem Nachbardorf. Auf den Ablagen standen süße Blechkuchen oder Pizza und andere Reste von vergangenen Abendessen. Bis heute genieße ich es, nach Hause zu kommen und mir zum Mittagessen diese »Reste« warm zu machen.
Man kann nichts Kostbareres von zu Hause mitbekommen als die Fähigkeit, Essen selbst zuzubereiten und mit Lebensmitteln umzugehen. Wenn ich meiner Mutter am Herd gegenüberstand, Auberginen in Würfel schnitt, oder Oliven entkernte, boten diese Zuarbeiten Raum für Gespräche. Gesprächszeit ist in einem Alltag mit fünf Geschwistern rares Gut.
Dass ich aufhörte zu essen und keinen Wert mehr aufs Kochen legte, war vor diesem Hintergrund doppelt dramatisch und traf meine Mutter tief.
Wortfetzen drangen an mein Ohr. Es war kein Englisch, eher Spanisch oder Englisch mit Akzent. Jemand rief laut nach Huevos Rancheros zum Mitnehmen. Die Frage, wie sich Huevos Rancheros mitnehmen ließen und wie die wohl im 34. Stock eines Bürogebäudes schmeckten, holte mich aus meinen Gedanken.
Ich merkte, dass ich nicht länger sitzen bleiben konnte. Ich packte meine Tasche, fasste widerwillig den klebrigen Türgriff und war, ehe ich mich’s versah, wieder auf die Straße gespuckt. Hupende Wagen und quietschende Busse rauschten vorbei, ich wagte es nicht zurückzublicken. New Yorker blickten nicht zurück. War die Tür einmal zu, konnte man nicht umkehren.
So ging ich die endlosen Strecken über das harte Pflaster, bis meine Fußgelenke schmerzten.
Ich fühlte mich nur hungrig und entleert. Es nieselte ununterbrochen, und es war morgens wie mittags wie nachmittags düster und nass. Regen in meinem Herzen. Ich wanderte herum und versuchte die Magie zu finden. Doch da waren keine freundlichen Worte, keine herzlichen Augenpaare, deren Blicke ich hätte erwidern können, keine liebevollen Gesten, alles um mich herum war kalt und unpersönlich.
Meine Eltern würden sich freuen, wenn ich hier studieren würde, dachte ich immer wieder. Es hörte sich einfach so gut an. »New York« klang immer gleich nach Erfolg.
Aus mir musste doch was werden. New York könnte das erledigen, es könnte so einfach sein. Das war die Vorstellung in meinem Kopf, die von äußeren Erwartungen genährt wurde und in unermessliche Größen wuchs.
Mein Zweifel wandelte sich in die Erkenntnis: Aus mir würde nie was werden.
Entgleist
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