Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
das Pferd zu satteln, die Decke festzuschnallen und weiterzureiten.
Die einzige Antwort, die ich auf diese Fragen habe, ist, dass mein Drang, die Not, der Beweggrund noch nicht groß genug waren. Immer hatte ich ein Dach über dem Kopf, immer eine Telefonnummer, die ich im Notfall anrufen konnte. Immer war ich gesund gewesen, immer war ich umgeben gewesen von den schönen Dingen, nie war ich mit echter Not, echtem Elend konfrontiert gewesen. Indem ich mich selbst krank machte, zog ich freiwillig ins Verderben, einfach um zu spüren, was es bedeutete zu leiden. Ich wollte den Schmerz und vergaß dabei, dass ich nicht nur mich selbst verletzte, sondern auch mein Umfeld in Mitleidenschaft zog. Die schlaflosen Nächte, die ich meinen Eltern mit dieser Sturheit bescherte, habe ich mir lange nicht verziehen.
Fassungslos starre ich auf die Seiten des Farmer-Buchs und muss an meine Rückkehr aus Vermont Academy nach Zürich denken. Es war wie ein Schlag ins Gesicht, es war Fettfutter für den Geier, der mich von innen her auffraß.
Meine Hoffnungen, zu Hause würde alles wieder gut werden, zerschlugen sich nach zwei Wochen. Die Gedanken darüber, was ich tagsüber alles zu mir genommen hatte, quälten mich vor dem Einschlafen, und die Überlegungen, wie viel ich dementsprechend am kommenden Tag zu mir nehmen durfte, um mein Gewicht zu halten, schlugen, kaum machte ich die Augen wieder auf, über mir zusammen. Hatte ich den Schwur geleistet, nicht mehr als Obst, eine dünne Scheibe Brot und vielleicht einen Joghurt über den Tag verteilt zu essen, stand ich vor den nächsten ungelösten Problemen.
Wo sollte ich nun hin?
Auf welche Schule?
Wie sollte es weitergehen?
Meine Erfahrungen aus Vermont, das Erleben von Einsamkeit, hatten an mir genagt wie Salzwasser an Holz. Ich war morsch und splitterte. Ich war siebzehn, fast erwachsen. Durch die heile, unveränderte, manisch schöne Stadt Zürich zu gehen fühlte sich an wie Hohn. Ich wollte niemanden sehen. Vor meinen ehemaligen Schulkameraden, die mittlerweile alle aufs Gymnasium gingen und vor der Matur standen, wollte ich meine Schwäche nicht zeigen. An jeder Tramhaltestelle lauerten auf mich, die Versagerin, die bösen Blicke der erfolgreichen Züricher. Manchmal hatte ich das Gefühl, Drew oder Jesse auf der anderen Straßenseite zu sehen. Dann suchte ich krampfhaft die Menschenmenge ab, nur um festzustellen, dass ich mich getäuscht hatte. Die heile Welt zu Hause, die Harmonie, das Glück, nichts passte mehr zu mir und dem, wonach ich strebte. Ich strebte nach Zerstörung auf der einen Seite, nach Erfolg und Anerkennung auf der anderen. Für meine Mutter war ich nicht mehr die vermisste Tochter, sondern eine psychisch Kranke, die nur noch Kleider kaufte und Kochrezepte las – sie hatte recht, ich war eine Süchtige. Ich bekam Standpauken und hörte mir alles an. Kaum hätte ich das eine Problem abgelegt, lache ich mir ein neues an. Ja, ich stand auf Probleme – mir war schließlich seit der Einschulung gesagt worden, dass ich ein Ausbund an Problemen sei. Stumm nahm ich alle Vorwürfe hin, ohne reagieren zu können. Man wies mich mit Worten zurecht, und ich konnte und wollte mich nicht wehren. Ich wusste nicht, wer oder was ich war – ich hätte sterben können und wäre glücklicher gewesen.
Ich lebte weiter.
Bald wurde klar, dass ich nach den Sommerferien auf die Internationale Schule in Zumikon, dem Dorf meiner Kindheit, gehen würde. So beklemmend der Gedanke daran war, ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. In meinem Kopf war alle Vernunft verknotet. Ich wog jetzt noch viel weniger als auf der Vermont Academy, da sich meine Muskeln rasant abbauten. Ich war nicht mehr nur dünn, sondern schon mager. Meine Mutter wies mich an, mir Strickjacken über die nackten Schultern zu ziehen, weil meine Knochen hervorstachen – ich schämte mich und konnte doch nicht anders, es ist das Absurde an dieser Hirnverbranntheit. Ich rechnete mir aus, dass, wenn ich mittags nur einen Kaffee trank, dann zu Hause richtig zu Abend essen konnte. Ich verausgabte mich beim Sport, beim Reiten und ging sogar auf Springturniere. Ich flog dabei einmal vom Pferd, stieg wieder auf und hatte mir zu meiner Enttäuschung keine Knochen gebrochen.
Es war Juni, die Schule begann im August. Zwei Monate würde ich es hier nicht aushalten, also beschloss ich, im Juli nach Sevilla zu fahren, um Spanisch zu lernen. Schließlich sprach auch mein Romanheld John Grady aus All the Pretty
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