Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
schreiben, an mein Hemd pinnen und mich vorstellen. Die meisten Schüler aus Zürich sprachen kaum Englisch, sie machten aber den Anschein, als würde der große internationale Durchbruch nur auf sie warten. Die anderen waren Sprösslinge von Diplomaten, die schon bald wieder in einem anderen Land zur Schule gehen würden.
In Geschichte fingen wir wieder ganz von vorne an, im Englischunterricht lasen wir Homo Faber von Max Frisch. Ich fuhr mit dem Fahrrad zur Schule und wieder nach Hause, ging nachmittags reiten, aß kaum noch etwas und machte meine Eltern wahnsinnig vor Sorge. Und ich musste in eine ambulante Therapie bei einer auf Essstörungen spezialisierten Psychologin. Das sorgte für zusätzlichen Stress im Alltag, und somit blieb mir noch weniger Zeit zum Essen, was durchaus in meinem Sinne war. Die Hosen hingen an mir, als habe man sie einer Gliederpuppe aus Holz angezogen, und ich traute mich nicht, mich im Spiegel zu betrachten, aus Angst vor meinem anderen Ich.
An meinem achtzehnten Geburtstag misslang der Geburtstagskuchen meiner Mutter. Und solange ich denken konnte, war meiner Mutter nie ein Geburtstagskuchen misslungen.
Weiter prasselten die Standpauken auf mich nieder, ich nahm die Vorwürfe, ich würde mein Leben nicht in den Griff kriegen und sie, meine Eltern, hätten dafür geradezustehen, kommentarlos hin. Nichts verletzte mich mehr als der Schmerz, den ich mir selbst zufügte. Ich war kaltblütig geworden und hatte keine Gefühle mehr. Autistisch bewegte ich mich im Spielraum meiner Neurose.
Die Schule ödete mich an, ich hasste die Lehrer genauso wie die Schüler. Gelangweilt und wortkarg unterhielt ich mich, wenn nötig, sonst war ich vollauf mit meiner Selbstzerstörung beschäftigt.
Anfang Oktober riefen mich meine Eltern ins Esszimmer zum Gespräch. Solche Gespräche im Esszimmer versetzten mich immer in Schockstarre. Sie erinnerten mich an die zahlreichen Therapeutengespräche, in denen etwas über und für mich entschieden wurde, dem ich nicht widersprechen konnte, nicht widersprechen durfte. Ich wurde zu einem Objekt, das der Willkür meiner Erziehungsberechtigten ausgesetzt war.
Wie jede Essgestörte hatte ich das Gefühl, gesund zu sein und selbst den Weg aus diesem Wahn finden zu können. Dass ich längst verloren hatte, war mir auch nach über 365 Tagen Hungern nicht bewusst. Mit der Entscheidung, mich in eine Klinik zwangseinzuweisen, haben mir meine Eltern am Ende das Leben gerettet.
Psychostatus bei Eintritt
Gepflegte, ordentlich gekleidete junge, mädchenhafte Frau. Freundlich und zuvorkommend in der Interaktion.
Wach und in allen Qualitäten orientiert. Psychomotorisch leicht verlangsamt, spricht die Patientin flüssig. Gedankengang formal wie inhaltlich unauffällig, keinerlei Hinweis auf Wahn oder Sinnestäuschungen. Leicht verminderte Konzentrationsfähigkeit bei gut erhaltenem Kurz- wie auch Langzeitgedächtnis. Im Vordergrund steht das anorektische Verhalten, welches inzwischen zu Spannungen innerhalb der Familie führt und bei einem BMI von 15 ein besorgniserregendes Maß erreicht hat. Seit einem Jahr Amenorrhoe. Die Patientin erscheint krankheitseinsichtig.
Der affektive Rapport ist herstellbar, die Patientin erscheint schwingungsfähig, aber auch spürbar belastet durch die Erkrankung und die anstehende Behandlung. Suizidalität besteht nicht. Deutlich eingeschränkte Konzentration und Ermüdbarkeit durch Gesprächsverlauf feststellbar.
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Ic h schaue entsetzt auf die Uhr. Seit zwei Stunden sitze ich hier und lese. Mein Kopf schwirrt. Am liebsten würde ich mir den Auswandererführer einverleiben, seinen Inhalt verschlingen. Ich klappe ihn zu und wieder auf und wieder zu, drücke ihn an meine Brust und lege das Buch schließlich sacht auf meinen Knien ab.
Wie fühlt es sich an, fast zu verdursten? Was ist wirklicher Schmerz? Wie tötet man, um zu überleben? Ich will auch eine Waffe besitzen und Schüsse abfeuern, die mein Abendessen erlegen. Wie baut man eine Blockhütte?
Ich denke an den harzigen Geruch des hiesigen Waldes, die unterschiedlichen Grüntöne der Flechten und Moose, die Intensität des Lichts, die Sahnigkeit der Wolken.
Und ich? Bin ich denn mutig genug, nicht nur einer Vorstellung, sondern einfach mir selbst zu entsprechen? Bin ich frei von den Zwängen?
Ich seufze und stehe vom Hocker auf. Nein, ich bin auch nach all den Jahren meiner Suche nicht am Ziel angekommen. Ich entspreche immer noch nicht mir selbst. Meine Knie sind
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