Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
Niemals durfte ich so enden. Es wurde mir grauenhaft ums Herz. Sie war der Teufel in Person, sie verkörperte das Böse in mir. Sie glotzte mich an, als sei ich eine Rivalin. »Pah! Ich bin dünner als du!«, keifte sie mich mit ihren Blicken an.
Ich hatte Alpträume von dieser Gestalt, schaffte es aber nicht, mehr als ein paar Scheiben Tomaten zum Mittag zu essen. Kleider in Größe 34 waren mir sichtlich zu groß, und in einem Monat wurde ich achtzehn.
Nach der Begegnung mit dem Teufel kehrte ich am frühen Abend verstört in die heiße Wohnung in Sevilla zurück. Meine Vermieterin sah sich dort Stierkämpfe im Fernsehen an und löffelte Quark oder Joghurt aus einer Salatschüssel. Erst dachte ich, ich könnte mich dazusetzen, einfach aus Neugierde, weil ich noch nie einen Stierkampf gesehen hatte. Eine Weile verfolgte ich das Spektakel in der wabernden Hitze auf dem goldgelben Sand. Die Kamera schwenkte über das Publikum in den Sitzreihen über die knallbunte Uniform des Kämpfers zum schwitzenden Stier, um dann wieder den hochkonzentrierten, selbstverliebten Gesichtsausdruck des Toreros in die Totale zu nehmen. Schon in den ersten Minuten floss Blut. Ich fand den Anblick des aufgeputzten Schimmels, auf dem der Kämpfer saß, befremdlich. Er wirkte im Bann des Gehorsams so vermenschlicht. Er war dem Bullen nur überlegen, weil dieser »gebrochen« war. Ich konnte den Anblick des verblutenden Geschöpfes nicht länger ertragen. Die geschmückten Schwerter steckten im schwarzen Leib des Opfers, sie baumelten mit jeder Bewegung hin und her. Der Torero drehte triumphierend seine Kreise. Enger und weiter wurde ihr Radius, röter und röter färbte sich der Sand. In Strömen lief das Blut dem wilden Tier in die Augen, aus den Nüstern. Tatenlos sah ich mit an, wie der tonnenschwere Koloss in sich zusammenbrach. Mir war schlecht, als ich vom Sofa aufstand und in mein Zimmer wankte. Ich schämte mich für mein getarntes »Interesse«, was sich nun eher wie Voyeurismus anfühlte.
Eines Abends ging ich mit der Amerikanerin und ein paar anderen Leuten in eine Flamencobar. Dort saßen Frauen, die ich um ihre langen, schwarzen Haare beneidete, Frauen mit gerundeten Gliedmaßen und feinen Goldketten am Handgelenk oder im Dekolleté, Frauen, die selbstzufrieden lächelten und rauchige, erotische Stimmen hatten – ich bewunderte und beneidete sie. Männer in langen Baumwollhosen und Poloshirts hatten sich zwischen ihnen auf Holzbänke und kleine Schemel gesetzt. Zwei von ihnen hatten Gitarren im Arm und spielten zum Gesang und dem Klatschen einer Frau. Zitronenscheiben steckten in Gläsern, Eis schmolz in der Hitze dahin, schneller, als ich gucken konnte. Es wurde geraucht und getrunken und gesungen. Ich saugte die Fröhlichkeit auf. Die Musik ging tiefer als mein Hunger. Und was mich am meisten berührte, war, dass die Lieder von braungebrannten, melancholischen Menschen gespielt und gesungen wurden.
Um zwei Uhr morgens erst brach ich auf und schlenderte alleine durch die warme Nacht zurück zur Wohnung. Ich ließ mir viel Zeit und machte ein paar Umwege, ich überquerte eine Brücke, schaute noch in eine Bar, in der schon die Stühle hochgestellt wurden, wünschte den Kellnern guten Morgen und kam schließlich eine Stunde später an meiner Haustür an.
Der Abend hatte sich wie Glückseligkeit angefühlt – ich spürte das, weil ich und dieser Zustand unerreichbar voneinander getrennt waren.
18
No ch vier Tage, und in Zürich würde die Schule beginnen. Ich sah meiner Rückkehr nach Hause hoffnungsvoll entgegen, die Struktur geregelter Essenszeiten fehlte mir. Mich weiter treiben zu lassen bedeutete, machtlos meinem Willen erlegen zu sein, und dieser zwang mich zum Hungern. Er nutzte die Situation voll aus und verbot mir den Genuss von Essen immer stärker, immer dominanter.
Körper und Geist sprachen längst nicht mehr die gleiche Sprache, in mir tobte der Kampf heftiger als zuvor. Ich war erschöpft. Auch die spanische Hitze machte mir zu schaffen, und ich freute mich auf die kühleren Tage in Zürich.
Als ich nach Hause kam, schlich ich mich als Erstes ins Badezimmer meiner Eltern und stellte mich auf die Waage. 39 Kilo. In zehn Tagen hatte ich 5 Kilo verloren. Nicht schlecht, dachte ich. Unter 40 Kilo war eine Leistung.
An meinem ersten Schultag an der Internationalen Schule kam ich mir vor, als hätte man mich wieder in den Kindergarten gesteckt. Ich musste meinen Namen für alle sichtbar auf einen Zettel
Weitere Kostenlose Bücher