Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
ein. 1944 spricht der Autor von Trendforschern, die eine Bewegung »Von der Stadt zurück aufs Land« feststellen. Nichts scheint sich geändert zu haben – eigentlich sehnt sich der Mensch immer nach dem Land – auch noch im 21. Jahrhundert.
Ich lebe in einer Zeit, in der dort, wo ich lebe, kein Krieg herrscht, aber in der viele Krankheiten wüten. Es sind Krankheiten, die wir nicht sehen, die wir niemals bekämpfen würden, weil sie als Fortschritt gelten. Doch welche Auswirkungen werden sie haben? Ich sitze in diesem völlig verlotterten Buchladen und kann diese beiden Welten nicht zusammenbringen. Die totale Technologisierung, Vernetzung und Digitalisierung der einen Welt und diese Welt, in der ich gerade sitze. South Woodstock, Vermont.
Eine Fliege schwirrt im Kegel unter der Glühlampe.
»Und dies ist ein Auswandererführer. Hier, Sie können sich auf den Holzschemel setzen.« Mit zitternder Hand nehme ich das Buch.
»Danke«, sage ich und schlage auch den Auswandererführer auf. Es ist von 1909. »Der Deutsche Farmer, im Busch und auf der Prairie«. Es ist auf Deutsch! »Der Zweck des hier folgenden Buches soll es sein, dem Farmer oder jedem, welcher sich dem ehrenwerten Beruf des Landbaus widmen will, eine gedrängte Übersicht über das Gesamtgebiet aller landwirtschaftlichen Betriebszweige zu geben und ihn so in den Stand zu setzen, für sich selbst zu denken, zu erwägen und zu entscheiden, was für seine persönlichen Ansprüche der richtige Betriebszweig sein würde und wie man ihn zum Erfolg führt.« Mit klammen Fingern blättere ich die Seiten durch. Für sich selbst zu denken, das würde heute niemand mehr empfehlen.
»So.« Der Buchhändler, dessen Namen ich immer noch nicht erfahren habe, steht neben mir. Erschrocken blicke ich hoch. »Ich habe Ihnen da noch weitere hingelegt. Hier rechts in dem Regal sind noch Bücher über den Westen und alte Cowboy-Groschenromane. Teilweise sind es Berichte von Trappern oder Soldaten – ganz interessant. Lassen Sie sich Zeit. Ich muss zurück ins Haus, da ich Gitarrenunterricht gebe.«
»Oh«, sage ich, immer noch etwas aus der Fassung.
»Klingeln Sie einfach, wenn Sie was brauchen. Ich bin übrigens Sonny.«
Wir geben uns die Hände. »Ich bleib gerne noch ein bisschen.«
»Lassen Sie sich Zeit«, wiederholt Sonny und wendet sich zum Gehen. »Und die Heizung lässt sich auch weiter aufdrehen, wenn’s zu kalt wird.«
»Danke!«
Er winkt.
17
Wa rum um alles in der Welt war ich nicht in Wyoming geblieben!? Mein Problem, nicht essen zu können, schien sich dort in Luft aufgelöst zu haben, und ich fühlte mich gesund. Hier plagte mich kein Heimweh, hier hatte ich Ruhe und Pferde und Appetit.
Ich weiß es nicht – und weiß es doch. Ich bin dem Ruf meiner Eltern gefolgt und hatte nicht den Mut, »nein, ich bleibe hier« zu sagen. Nach zehn Tagen stieg ich also ins Flugzeug und flog mit meinem Cowboyhut zurück nach Zürich.
Ich wusste genau, dass ich freiwillig ins Gefängnis zurückkehrte, zurücktrottete, einer höheren Macht von Gefallenwollen ergeben meiner schulischen Zukunft folgte. Aber was soll’s, sitzt man ein Jahr, zwei Jahre in einem Kerker, hört man irgendwann auf, sein Schicksal zu hinterfragen, man nimmt es einfach hin. Die einzige Möglichkeit, mich gegen den unaufhaltsamen Prozess des Weitergebildetwerdens zu wehren, schien die totale Reduktion auf Haut und Knochen. Ich wollte nichts mehr spüren. Ich wollte keinen Hunger, keinen Durst mehr spüren, ich wollte die totale Kontrolle über meine Gedanken. Nur die Kontrolle konnte mich vor der Sintflut bewahren. Vielleicht glaubte ich auch, durch die Reduktion auf das mögliche Minimum an Körpergewicht mich endlich selbst zu erkennen. Ich wollte diesen Körper ablegen, der eine Person barg, die gemacht, geformt, zurechtgebogen worden war. Ich wollte vor dem stehen, was noch von mir übrig war: meinem Kopf. In diese Falle tappe ich heute noch, zu viel Kopf und zu wenig Körper zu sein.
Warum fiel es mir so schwer, ehrlich mit mir zu sein? Und wenn ich Cowboy werden wollte, warum wurde ich es nicht einfach? Warum nahm ich nicht meine rote Tasche und zog von Wyoming aus weiter? So wie es die Cowboys taten: Wenn der Job getan war und es kein Geld mehr gab, das zweite Hemd, die Waffe, den Becher, das Bowiemesser, Trockenfleisch, die Mundharmonika, Tabak und Streichhölzer, etwas Schnur (fast alles, was früher auch in meine Pfaditasche gehörte) in die Satteltaschen zu packen,
Weitere Kostenlose Bücher