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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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langen Fluren, wo Idioten auf und ab gehen, sabbern, unverständlich sprechen und von Ärzten behandelt werden. Jeder Idiot lebt in einer Zelle, und wenn der Therapeut zur Behandlung kommt, gibt’s bei jedem Anzeichen von Realitätsverlust eine Ohrfeige. »Wie heißen Sie?« – »Einstein!« – Klaps! »Wer sind Sie?« – »Ich bin General! Ich habe tausend Soldaten erfolgreich in der Schlacht gegen die Hugenotten angeführt!« – Klaps!
    Früher gab es in unserem Dorf einen Trottel, Ueli, über den wir immer Witze machten. Er faszinierte uns, stieß uns ab und jagte uns Schrecken ein, wenn er zu nahe kam. Ueli war oft Opfer von Hänseleien. Und wenn man sich über einen Kameraden lustig machte, dann zog man Grimassen und rief ihm »Ueli!« hinterher. Ueli war körperlich und geistig behindert. Er fuhr täglich mit einem Besenwagen durch die Straßen, schleppte sich mit seinen verkrüppelten Gliedern über die Bürgersteige und leerte die Mülleimer. Niemand wusste, was er hatte, wo er wohnte und wer seine Eltern waren. Wenn ich ihn auf dem Schulweg sah, wie er völlig verrenkt zu den Kehrichteimern hinkte, betrachtete ich ihn mit Interesse und Mitleid gleichermaßen. Wenn wir mit unserem Auto seinen Besenwagen überholten, dachte ich immer: »Der arme Ueli.«
    Grüßte man ihn, sprach er unverständlich, und man hätte nicht sagen können, ob er versuchte freundlich zu sein. Ueli gehörte nicht nur zum Besenwagen, sondern auch zu unserem Dorf. Später, als ich schon nicht mehr in der Schweiz lebte, erfuhr ich, dass er sich in seinem Zimmer erhängt hatte. Wie eigenartig, dass wir immer gedacht hatten, Ueli lebe im »Burghölzli«, einer Psychiatrie am oberen Stadtrand Zürichs. Das »Burghölzli« war damals in meiner Vorstellung eine Burg für Irre, Uelis Zuhause.
    Nun befand ich mich selbst auf dem Weg in eine Anstalt. In meiner Erinnerung sprachen wir nicht, aber meine Mutter hielt meine Hand den ganzen Weg. Ich blickte seitlich aus dem Fenster, wie ich es immer tat beim Autofahren, und verfolgte, wie die Regentropfen an der Scheibe Spuren zogen. Ich dachte nach. Nachdenken war sehr gefährlich geworden, da mich die Gedanken unaufhaltsam mitreißen konnten und ich mich darin verlor. Der Wasserfall all der Erwägungen, Vorwürfe, Fragen prasselte in das Becken meines Gehirns und kreierte einen Strudel, der mich kontinuierlich unter Wasser drückte. Es war kaum mehr möglich, einen klaren Gedanken zu fassen.
    Mein Bauch war eingefallen, und der Gürtel schmerzte an meinen Hüftknochen. Mein Mund war trocken, doch ich wollte nichts trinken. Ich fror – daran hatte ich mich gewöhnt. Felder glitten vorbei. Kühe weideten unter dem herbstlichen Himmel. Geräuschlos stießen schwarze Vögel in die frisch aufgepflügte Erde rechteckig angelegter Äcker und pickten sich die fetten Würmer heraus. Unser Wagen fuhr weiter entlang der Bahnlinien und des ausgesteckten Bauerwartungslands. Ich dachte an die lange Zeit, die ich nicht mehr gelacht hatte, ich dachte an all die schlaflosen Nächte, die Alpträume, die mich verfolgten, und an mein Spiegelbild, mein zweites Ich, das mich ständig aus roten, tödlichen Augen anglotzte. Dann spürte ich die Hand meiner Mutter, die Wärme und die Feuchte. Ich konnte den Puls in ihren Fingerspitzen fühlen. Mein Brustkorb brannte – ich hatte versagt. Mal wieder.
    Die Bebauung wurde dichter, wir fuhren langsamer. Auf der Wiese am Rand der Landstraße standen zahlreiche Apfelbäume. Knallrote Äpfel hingen zu Hunderten zwischen den Blättern im Geäst. Die Zweige neigten sich unter dem Gewicht zur Erde und stützten sich dankbar auf die Holzleitern, die zeltartig zum Stamm hin aufgestellt worden waren. In dem Moment schien mir da draußen alles rund und prall. Die Apfelzeit war da.

    »Haben Sie an Selbstmord gedacht?«, fragte der Arzt.
    Ja, natürlich, dachte ich.
    »Nein«, sagte ich.
    »Erbrechen Sie?«
    »Nein.«
    »Haben Sie Fressanfälle?«
    »Nein.«
    Herr Dr. Wagner arbeitete sich durch die Standardfragen. Ich saß auf einem mit schwarzem Leder bezogenen Freischwinger in einem mehr oder weniger modernen Sprechzimmer. Mir gegenüber saß der Arzt, Mitte vierzig, blondes Haar, an der Stirn gerade so lang, dass es ihm nicht in die Augen fiel, sondern sich sanft gewellt zur Seite legte und sein schmales Gesicht mit intellektuell-schelmisch dreinblickenden blauen Augen freigab. Er trug ein blau-weiß kariertes Oberhemd, Jeans dazu und Wildlederschuhe zum

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