Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
soll es liegen? Mir schwebt eine hügelige Landschaft vor, irgendwo westwärts von hier. Das Land sollte an einem Gewässer liegen und über Wälder genauso wie über freie Grasflächen verfügen. Es sollte eine Anhöhe haben, von der aus ich Sonnenuntergänge und Sonnenaufgänge erleben könnte.
Nachbarn? Mal sehen. Eigentlich würde ich an einen Ort wollen, wo nicht jedermann überleben kann – um Abstand zu den Menschen zu haben.
Ich blättere weiter in meinem Buch. Bald merke ich, dass ich mit meinen Gedanken noch ganz am Anfang bin.
Ein Geräusch, das klingt, als würde jemand an der Tür rütteln, holt mich aus meinen Gedanken. Ich blicke von meiner Lektüre auf, schiebe meinen Teller beiseite und höre, dass draußen ein heftiger Wind aufkommt. Die Blätter segeln vor den Fenstern durch die Luft. Da ich das Fenster hinter der Spüle noch geöffnet habe, höre ich den aufkommenden Sturm im schweren Geäst der Bäume. Ich trage meinen Teller zum Waschbecken, schließe das Fenster und schaue auf die aufgewühlte Wasseroberfläche des dunklen Teichs. Regentropfen zerplatzen auf seiner Oberfläche, die gelben Blattspitzen der Trauerweide schwanken wie Boote in Seenot übers Wasser. In einer Ecke der Veranda steht ein hölzernes Windrad auf einem hohen Ständer. Es besteht aus einem Pferd, das wie ein Wetterhahn auf einem horizontalen Pfeil befestigt ist. Er zeigt Norden und Süden an. Ein quietschender, ratternder Propeller aus Holzblättern schiebt das Pferd immer in die entsprechende Windrichtung, dabei klappert das locker montierte Windrad mal schneller, mal langsamer.
Der Wind heult, alles fliegt durcheinander. Schlagartig verdüstert es sich, und schwarze Wolken türmen sich am Himmel zu einer Front. Ich laufe zur Haustür und öffne sie. Heftig zerplatzen die dicken Regenspritzer auf dem Steinpflaster, über mir wankt die Laterne. Er riecht herrlich frisch, der Wind, aber er ist scharf und kalt, als würde er Schnee vor sich hertreiben. Die Hängematte, in der ich noch vor einigen Nächten gelegen hatte, wiegt sich in den Böen, die Decke, die ich vergessen habe reinzuräumen, hängt bereits im Ahorn. Ich renne raus und ziehe sie vom Ast herunter. Beim Zusammenfalten zappeln die Zipfel wie lebendige Fische. Ich laufe wieder ins Haus, schließe die Tür, renne die Treppe hoch auf mein Zimmer, schließe alle Fenster, und nur kurze Zeit später prasseln die Wassermassen aufs Land und zerfetzen das letzte Laub, das noch in den Bäumen hängt.
Dritter Teil LITTENHEID
1
16. 10. 2000
Zuweisungssituation
Die Symptomatik der Anorexie wurde im Rahmen eines USA-Aufenthaltes deutlich, wo die Patientin für ein Jahr an einer Highschool in Vermont weilte. Der Gewichtsverlust wurde im Oktober 1999 festgestellt, nachdem die Mutter ihre Tochter nach drei Monaten erstmalig wiedersah. Vor der Abreise nach Amerika im Juli 1999 hatte die Patientin 55 kg gewogen, im Juni 2000 lag das Körpergewicht nur noch bei 50 kg, aktuell sei es auf 39 kg abgesunken. Erst durch die Konfrontation mit behandelnden Ärzten konnte die Patientin im Verlauf der vergangenen zwei Monate auf ihre Problematik aufmerksam gemacht werden, besonders dramatisch war die Entwicklung seit Juni 2000, wobei die Patientin während eines Spanienurlaubes innerhalb von zwei Wochen nochmals 5 kg verloren hatte.
Zur auslösenden Situation berichtet die Patientin, dass sie in Amerika wenig sozialen Kontakt hatte und sich völlig auf ihre Lernarbeit konzentrierte. Gleichzeitig konnte sie weder Kunst noch die geliebten Sportarten durchführen und außer Landhockey nicht viele andere Tätigkeiten ausüben. Sie habe eine stressige Zeit erlebt mit viel Arbeit und Sport, zunehmend »keine Zeit zum Essen gehabt«. Nach Aussage der Patientin kein Erbrechen, keine Essanfälle, keine Selbstverletzung und keine Suizidgedanken. Die Patientin benennt selbst als Stressor die Situation, dass sie erstmalig in ihrem Leben völlig auf sich selbst gestellt gewesen sei, da weder Vater noch Mutter in der Nähe gewesen seien.
Aktuell lebt die Patientin bei ihrer Familie in Zürich und besucht die Intercommunityschool (ICS).
In welche Klinik sollte ich gehen? Schließlich fuhr ich mit meiner Mutter nach St. Gallen. Littenheid war eine Heil- und Erholungsstätte für psychisch, psychosomatisch und suchtkranke Menschen. Für alle, die nicht mehr konnten. Ich hatte keine Vorstellung von einem solchen Ort.
Klapse, dachte ich: Das sind Häuser mit weißen Wänden und
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