Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
Schnüren.
Meine Mutter wartete draußen im Wartezimmer.
Ob ich manchmal überlegen würde, mich zu verletzen, mir weh zu tun, um mich danach besser zu fühlen.
Uns trennte nur ein eckiger Glastisch, auf dem eine Kleenex-Box bereitstand.
»Nein, eigentlich nicht«, sagte ich.
Ich wollte raus, rennen, fliehen. Ich bin doch nicht krank, dachte ich, und verrückt schon gar nicht. Ich bin doch Louise, lass mich in Frieden!
»Erzählen Sie etwas von sich«, bat der Doktor. »Ich weiß nur, dass Sie achtzehn Jahre alt sind, aus Zürich kommen und eine Essstörung haben.«
Ich erzählte von der Legasthenie und den Therapien, der Schule und was mir eben so einfiel. Beim Sprechen tat mir der Hals weh. Ich starrte auf meine Füße, vielleicht ab und zu auch in sein Gesicht oder auf den Gummibaum, dessen Blätter hinter seinem Gesicht hervorragten. Während ich sprach, merkte ich, wie sehr mich meine Geschichte langweilte. Ich konnte den ganzen Mist mit der Legasthenie und den sogenannten Schulproblemen nicht mehr hören. »Ich war eigentlich ein lustiges, aufgewecktes Mädchen, ziemlich frech«, schloss ich.
Es klopfte. Meine Mutter trat ein.
Wie viele Mütter und Töchter der Doktor wohl schon gesehen hatte? Jedenfalls schaute er gelassen und immer noch schelmisch. »Mit drei Monaten müssen Sie schon rechnen«, sagte er, legte seinen Stift auf dem Notizblock ab und hielt sich mit der Linken sein Kinn.
Ich starrte auf meine Turnschuhe. Der konnte mich doch nicht einsperren! Ich war nicht verrückt! Ich war nur ein bisschen traurig, und mir war die Lust am Essen vergangen. Mehr nicht.
Ich wurde auf die Station Pünt Nord geführt und dort von Renate, einer der Pflegerinnen, in Empfang genommen. Sie zeigte mir alles.
Die Wände waren reibeverputzt, weiß getüncht. Spots an den Decken sorgten für Licht, Pflanzen in Hartplastiktöpfen mit Tonkügelchen für Grün, der Boden war gefliest, die Einrichtung aus Kiefernholz.
»Du hast wahrscheinlich Anorexia nervosa?«, fragte sie.
Guck mich doch an, dachte ich und nickte.
»Wir haben noch ein paar andere Essgestörte. Aber nicht so viele.« Sie lächelte.
Ich lächelte zurück.
Montag durfte ich einziehen.
Auf dem Nachhauseweg machte ich mir Vorwürfe. Diese Selbstvorwürfe waren längst zur Gewohnheit geworden. Andere schnitten sich mit Rasiermessern, ich schimpfte mich in Grund und Boden. Irgendwie verschafften mir diese Niederträchtigkeiten Erleichterung. Ich bestätigte mich selbst in meiner Schwäche, meiner Dummheit und meiner Unfähigkeit zu leben. Der Kreis schloss sich.
2
»D u hast ja mehr Mut als ich«, sagt Paul zu mir. »Ich kann nicht mehr mit ansehen, wie Tiere erschossen werden.« Es ist halb sieben Uhr morgens. Jim hat Paul zwei unserer Lämmer verkauft und angeboten, sie für ihn zu töten. Eiseskälte liegt über dem halbdunklen Land. »Jahrelang habe ich Schweine und Schafe für den Fleischmarkt gezüchtet und gehalten, aber je älter ich wurde, desto weniger konnte ich sie töten. Deshalb muss Jim heute für mich ran.« Jims Freund Paul hat nichts als eine Trainingshose und einen Baumwollpullover mit Mottenlöchern an den Schulterpartien an. Auf die Brust ist ein Bild von zwei Wölfen unter einem Nachthimmel im Mondlicht aufgedruckt.
Jim trägt Arbeiterhosen und Stiefel, eine gefütterte Jacke in Karomuster und seine Baseballmütze, die langen Haare darunter wieder zum Zopf gebunden, er lädt seine Waffe mit zwei Patronen. Es ist nicht die Magnum, sondern ein handlicher Revolver von der Farm. Ich sehe wieder zu Paul und dem Wulst nackter Haut, der zwischen Pulloverbund und Hosensaum hervorquillt. Von der Eiseskälte unbeirrt, kaut er auf einem Streifen Jerky. »Willst du?«, bietet er mir den Plastikbeutel an. »Habe ich sogar selbst gejagt und geschossen. Das ist Elch- und Hirschfleisch. Ist ein bisschen würzig, aber probier’s.«
Ich sage, ich hätte noch nicht gefrühstückt, nehme mir aber drei Streifen und stecke sie in die Tasche.
»Och!«, lacht Paul. »Das ist das Beste zum Frühstück!«
Jim ist über den Zaun geklettert und geht zwischen den Lämmern umher. Es sind gut genährte Tiere, die ein Dreivierteljahr alt sind. Die Pistole steckt in der Gesäßtasche von Jims Hose. Er schwenkt einen Eimer mit Futter. Die Schafe sind gierig nach dem Geräusch und laufen im Unterstand zusammen. Jim wirft ein paar Handvoll ins Stroh und wartet. Als alle Tiere mit den Köpfen am Boden um Futter rangeln, greift er sich blitzschnell eines
Weitere Kostenlose Bücher