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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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sich die Denkhaltung, welche es mir, trotz allem, immer wieder ermöglicht hat, weiterzuleben. Denn die Aussicht darauf, irgendwann zu sterben, hat für mich eher die Konsequenz, jeden Tag bewusst die Entscheidung zu treffen, das Leben zu führen, das ich führen will. Ich weiß, dass der Weg dorthin lang sein wird. Und da ist natürlich die Ungewissheit, ob ich es jemals an mein Ziel schaffen werde. Aber wenn ich jeden Tag eine weitere Entscheidung fälle, die mir den Weg dorthin bahnt, wird es leichter sein, mit der Ungewissheit umzugehen.
    Ich betrachte den Knochen und finde, dass er die Farbe von handgeschöpftem Papier hat.

10
    An jenem Abend in der Bar hatte ich die Zerrissenheit gespürt zwischen normalem Leben und Littenheid. Mein Aufenthalt in der Klinik hatte nichts mit Alltag zu tun. Ich hatte keine »normalen« Freunde mehr, keinen Kalender, keine Aufgabe. Niemand in der Gesellschaft brauchte mich, niemand schien mich zu vermissen. Das große Rad drehte sich auch ohne mich und all die anderen Insassen von Littenheid. Ich war faktisch tot und musste überlegen, als was ich wiedergeboren werden wollte. Meine Zukunft bestand nur aus einer utopischen Kilozahl – der 50. Dahinter lag eine scheinbar unüberwindbare Salzwüste: die Zukunft.
    Es gab Tage, da hielt ich die Klinik nicht mehr aus. Ich wollte alles überwinden, ich wollte den Neuanfang machen und somit das Hier und Jetzt als Vergangenheit erklären. Es machte mich unruhig, dass andere Menschen lebten und liebten, genießen konnten und dankbar waren und ich ungeduldig mit einem Teelöffel den Tunnel durch meine gestörte Psyche grub, in der Hoffnung, irgendwann ans Tageslicht zu stoßen. Ich wollte den Zustand ändern, aber ich konnte es nicht, ich wagte es nicht. Da draußen warteten Bedingungen auf mich: Schulabschluss, Beruf und Karriere. Doch mir fehlte die Voraussetzung all dessen – mir fehlte ein Ort, an dem ich mich zu Hause fühlte. Die Schweiz gab mir dieses Gefühl nicht, und so wurde mir klar, dass ich noch überhaupt nicht bereit war hinauszugehen und das Leben am Schopf zu packen.
    Aber ich konnte auch nicht ewig hierbleiben. Ich sah mich unerbittlich mit meiner Angst davor konfrontiert, rauszugehen und zu versuchen, ein glücklicher Mensch zu werden.
    Dr. Wagner nannte das: »Ängsten begegnen, um sie überwinden zu können.«
    Ich hatte ganz unterschiedliche Ängste. Ich hatte Angst, meinen Eltern zu widersprechen, ich hatte Angst, kräftig und stark zu werden, ich hatte Angst, gesund zu werden, weil Gesundheit einer Sackgasse gleichkam. Die größte Schwierigkeit, von einer psychischen Krankheit abzulassen, besteht darin, auf die Aufmerksamkeit und die scheinbare Anteilnahme von Ärzten und Therapeuten verzichten zu müssen. Es gab wenige Auswege aus meiner Situation. Oder auch: Es gab gar keine.
    Ich ging nun zweimal die Woche zu Dr.Wagner. Es ärgerte mich, dass er mich anscheinend durchschaute. Ich wollte seinen rhetorischen Schachzügen nicht unterliegen. Doch irgendwann packte er mich da, wo ich am empfindlichsten war – an meinem Ehrgeiz. Monatelang hatte ich große Worte gesprochen, ohne Taten walten zu lassen. Ich hatte ganz gescheit dahergeredet, mich furchtbar intellektuell gegeben, aber wenn’s darum ging, einen Joghurt aufzuessen, machte ich mir fast in die Hose.
    Vielleicht warf er mir vor, ich könne zwar gut reden, sei aber mutlos und ein Angsthase. Vielleicht sagte er mir, wenn ich tatsächlich so hart im Nehmen sei, warum würde ich es dann nicht schaffen, Speck auf meine Knochen zu kriegen.
    Und da unterlag ich doch. Wie ich mich schämte, Opfer von einer so bescheuerten Schwächlingskrankheit zu sein. Wie ich mich schämte, immer die große Klappe zu haben, dass mir alle unrecht taten und getan haben, ich mich aber am wenigsten akzeptieren konnte und ich es war, die sich am meisten Schaden zufügte. Wie bescheuert es doch war, sich täglich mit ein und demselben Gedanken auseinanderzusetzen, nur um vor der Konfrontation mit dem Ernst des Lebens zu flüchten! Und zuletzt: Wie verwöhnt ich war, mich zwischen weiß getünchten Wänden, im Angesicht gut bezahlter Ärzte und im Schutze einer Institution meinen Problemen zu widmen. Hatte ich nicht immer rausgewollt aus dem goldenen Käfig?
    Na, Louise?
    Traust du dich etwa nicht?
    Verdammt, ich saß in einer Falle.
    Mit großer Genugtuung schob Dr. Wagner mir die Taschentücher über den Glastisch zu. Doch ich weigerte mich, eines zu nehmen, wischte stattdessen

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