Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
gesteckt hatten, in die Schüssel und schmierte den Teig aufs Blech.
Ich gestand ihr offen meinen Ekel. Im Stillen redete ich mir ein, dass im Ofen alles an Bakterien verbrennen würde. Ich war zu der Zeit allergisch auf das Husten, Niesen, Nasehochziehen aller Menschen und ekelte mich vor unhygienischen Toiletten, Türgriffen, überhaupt vor allen natürlichen Gerüchen oder Spuren, die der Mensch hinterließ.
Ich schob die Bleche in den Ofen, und zwei Stunden später saßen wir alle zusammen, aßen Kekse, tranken Kaffee und plauderten – wie jeden Freitag.
Warum musste Charlotte so enden? Wer hatte das Recht, eine menschliche Psyche gefügig zu machen und ihr den Willen zu nehmen?
Wille war doch Sein! Aber um mich herum hatten die Menschen keinen Willen mehr; keinen Willen, den Zustand, der ihr Leben bestimmt, aus eigener Kraft zu ändern.
Und ich? Ich gehörte immer weniger zu meiner Familie. Geschwister und Eltern waren zu Fremden, zu Eindringlingen geworden. Ich lebte in meiner Suchtwelt, die ich mir sorgfältig errichtet hatte wie eine Burg.
Wer war ich geworden?
Anfangs hatte ich noch Genuss bei der Selbstzerstörung verspürt, wollte mechanisch funktionieren, mich immer weiter in die Enge des Labyrinths treiben. Ich genoss es, mich mit Anschuldigungen, ich sei eine Versagerin, ich sei schwach und unfähig, mich »da draußen« zurechtzufinden, erbarmungslos zu erniedrigen und meine Lebensenergie durch den immer härter werdenden, auferlegten Zwang zu ersticken. Es war berauschend, doch es ging zu weit. Erst Kurt, jetzt Charlotte – wann war ich an der Reihe?
Ich offenbarte mich niemandem, nicht dem Arzt, nicht meinen Eltern, ich kommunizierte nur schriftlich mit meinem zweiten, kranken Ich. Ich schrieb ihm Drohbriefe, ich schrieb ihm Liebesbriefe. Ich erklärte ihm den Krieg und gab dann wieder auf. Essen machte mir noch immer Angst. Ich weigerte mich, irgendwelche linsengroßen, bunten Pillen zu schlucken, und vergrub mich in Büchern, Bildern und Worten. Nur mit Anna verbrachte ich Zeit. Sie war eine wirkliche Freundin geworden, und sie ließ ich an mich ran.
Nach ihrer Phase völligen Rückzuges überredete sie mich, an einem Wochenende nach Zürich zu fahren, um »eins trinken« zu gehen. Es war schließlich Freitagabend, und man ging aus. Im Winter nach draußen zu gehen war mit größter Anstrengung verbunden, da es mich unglaublich viel Energie kostete, warm zu bleiben. Die Kälte wirkte wie ein lähmendes Gift auf mich, der Körper zog dann das Blut aus Händen und Füßen, um die Organe warm zu halten. Meine Muskeln verkrampften sich, und meine Haut war weiß mit Ausnahme der geröteten Wangen.
In der Bar, die wir aufsuchten, lag alles im warmen Rot marokkanischer Laternen, die von der Decke hingen. Kerzenlicht schimmerte auf dem dunklen Tresen. Die meisten Gäste standen lässig beisammen, unterhielten sich vielleicht über ihre Woche, lachten über Witze. Andere saßen eng aneinandergekuschelt in den weichen Sofakissen, zündeten sich gegenseitig Zigaretten an oder gossen das Ginglas ihrer Begleitung mit Schweppes auf. Männer musterten Frauen, Frauen musterten Männer.
Ich saß wie ein Neutrum auf einem der Hocker. Ich blickte auf die Menschen und konnte nicht glauben, dass ich auch von ihrer Sorte war. Ich könnte auch anstoßen, könnte ins Gespräch kommen, könnte glänzende Augen haben, eine rauchen und genüsslich Wein oder Bier trinken. Aber ich konnte es nicht. Ich befand mich ganz weit weg vom Ufer, ich trieb auf offener See und scheute mich, an Land zu gehen.
Anna sprach, während ich so dahinüberlegte, zwei Männer an. Sie trugen Anzug und kamen möglicherweise aus einem Werbebüro oder einer Bank. Sie wirkten auf mich wie Riesen, und als sie näher traten, um mit uns zu sprechen, erschlug mich ihre Präsenz fast. Sie luden uns auf ein Getränk ein. Mich nahmen sie nicht so ernst. Ich muss auf sie gewirkt haben wie ein Kind. Wir unterhielten uns, das heißt: Anna unterhielt sich. Ich schwieg und schaute.
Sie kamen ursprünglich aus Biel.
»Und wo kommt ihr her?«, fragten sie.
Anna und ich guckten uns an. Ich druckste.
»Wir haben Freigang aus der Klapsmühle«, sagte Anna schließlich.
Die Männer zeigten sich irritiert, lachten ungläubig und wiederholten ihre Frage.
»Nein, wirklich«, sagte Anna. »Wir wohnen im Irrenhaus und haben heute Abend Ausgang.«
Sie musterten mich und sahen sich Anna ganz genau an.
Um uns herum wurde geküsst, geflirtet und
Weitere Kostenlose Bücher