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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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Refrain »…  on blue bayouuuu …«, genüsslich und mindestens zehnmal wiederholt sie diese drei Worte. Der letzte Akkord ist fast verklungen, da lässt sie den Hals ihrer Gitarre los und lächelt zufrieden.
    Weitere Kandidaten stellen oder setzen sich ans Mikrofon und spielen Songs. Es wird lauter. Die Lieder von Pink Floyd singen alle mit. Farmer und Holzarbeiter spielen Frankie Laine, George Jones’ Ruby don’t take your love to town und eigene Songs. Ein hagerer Mann mittleren Alters, der eine Kette aus Holzperlen um den Hals trägt und Augen wie Steinkohle hat, spielt so gut Gitarre, dass die Zuhörer drei Zugaben verlangen. Wir klatschen und tanzen. Jim bestellt ein zweites Bier und einen zweiten Drink für mich.
    Da stellt sich einer ans Mikro und fragt: »Wer kann Willie Nelsons’ Mammas don’t let your babies grow up to be cowboys singen?«
    Ich zucke zusammen. Ich kann Willie Nelson singen, denke ich.
    Jim schaut mich fragend an.
    »Lass uns singen«, sage ich.
    »Nein«, wehrt Jim ab.
    »Komm schon, Jim.« Ich trete einen Schritt vor und sage: »Wir singen!«
    Jim weigert sich immer noch. Ich fasse in den zwanzig Jahren, die ich ihn kenne, zum ersten Mal seine Hand. Sie ist warm.
    »Mammas don’t let your babies …?«, setzt der Typ an der Gitarre mit der ersten Strophe an.
    Ich nicke. Flehend schaue ich über die Schulter zu Jim, doch er will nicht. Eine andere junge Frau kommt ans Mikro und meint, sie würde mit mir singen. Sie ist schlank und muskulös, hat weißblonde, wirre Haare, in denen eine Margerite steckt. Ihre Haut ist so braun wie eine Wurzel, die man gerade aus der Erde gegraben hat. Sie sieht mich mit großen, leuchtenden Augen an und sagt mit breitem Lachen: »Ich habe noch nie jemanden getroffen, mit dem ich Willie Nelson singen kann.«
    »Ich auch nicht«, erwidere ich.
    Der Trommler fängt an zu trommeln, und der Gitarrist mit den prügeldicken Oberarmen beginnt zu spielen.

    Mama don’t let your babies grow up to be cowboys
    Don’t let ’em pick guitars and drive them old trucks
    Make ’em be doctors and lawyers and such
    Mama don’t let your babies grow up to be cowboys
    They’ll never stay home and they’re always alone
    Even with someone they love
    Cowboys ain’t easy to love and thei’re harder to hold
    And they rather give you a song than diamonds or gold
    Lonestar belt buckles and old faded Levi’s
    Each night begins a new day
    And if you don’t underdstand him
    And he don’t die young
    He’ll probably just ride away
    …

    Das Singen fühlt sich gut an, merke ich. Singen findet nicht im Kopf statt, sondern im Hals und im Bauch, und das tut mir gut. Alles um mich herum tut mir gut, weil nichts von alldem einen kulturellen oder intellektuellen Anspruch hat, weil mein Kopf und all die Gedanken zwar da sind, aber hier und jetzt nicht die Hauptrolle spielen.
    Ich denke an die Flamencobar in Sevilla zurück, schaue in die rotbackigen Gesichter um mich herum und bin froh, nicht mehr nur Betrachter, sondern gemeinsam mit anderen Teil des Vergnügens zu sein.

12
    Di e Rhätische Bahn fuhr, nachdem sie sich drei Stunden über den Albulapass gewunden hatte, in den Kopfbahnhof von St. Moritz ein. Mein Vater stand am Bahnsteig, um mich abzuholen.
    Es war eigenartig, in die Familie zurückzukehren und so zu tun, als sei nie etwas gewesen. Ich versuchte, mich so »gesund« wie möglich zu verhalten. Natürlich war ich immer noch sehr dünn, und ich achtete extrem darauf, was und wie viel ich aß. Ich konnte nicht Ski fahren, weil ich mich dazu noch zu schwach fühlte. Stattdessen ging ich spazieren, mit meiner Mutter oder alleine. Meine Mutter war vom ersten Tag meiner Rückkehr an wieder extrem besorgt. Nun, da ich wieder in der Familie war, stand stets die Frage im Raum: War alles wieder gut – oder nicht?
    Widerwillig lutschte ich Hustenpastillen, die anderen Symptome des noch nicht überstandenen Infekts versuchte ich zu verdrängen. Jetzt muss alles wieder gut sein – alles wie früher, redete ich mir ein.
    Wir sprachen nicht über die Klinik. Keiner wollte sich danach erkundigen. Was sollten sie auch fragen? Wie war’s denn in der Klapse? Laufen dort wirklich alle in Zwangsjacken rum?
    Nein, Littenheid war nun Vergangenheit.
    Wenn ich keinen Kuchen zum Tee aß, wurde meine Mutter unruhig. Aber ich konnte nicht! Der Dämon war zurück, und keiner war da, der mir ein Schwert reichte, damit ich ihm den Kopf abschlagen konnte.
    Es dauerte keine drei Tage, da

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