Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
Edelstahltablett in den Händen trat ein. Darauf lagen fein säuberlich Spritze, Gummimanschette zum Abbinden und Kanülen fürs Blut. Einmal musste er viermal in den einen Arm, dann zweimal in den anderen Arm stechen, bis beim siebten Versuch endlich das Blut kam. Er muss so aufgeregt, ungeschickt oder unerfahren gewesen sein, dass er die Vene einfach nicht erwischte. Er hatte eiskalte Finger und schien sich fast ein bisschen vor mir zu fürchten. Im Februar wog ich knapp 50 Kilo – die Bedingung für meine Freilassung hatte ich somit erfüllt.
Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass mich eine Woche vor meinem geplanten Austritt ein Grippevirus befiel. Ich lag drei Tage mit Fieber im Bett und bekam höllische Angst, ich könnte mein Gewicht wieder verlieren und müsste dann noch länger hierbleiben. Keinen Tag länger, schwor ich mir. Krampfhaft klammerte ich mich an den Termin. Der Freitag kam, ich fühlte mich gesund, das Fieber war weg, und von der Grippe war nur eine leichte Erkältung übrig geblieben.
Nun war ich es, die sich von allen verabschieden musste. Alles hier hielt mich nur auf, mein Leben weiterzuleben. Ich war getrieben von diesem absurden Traum, irgendwann dort hinzukommen, wo ich keine Erwartungen mehr würde erfüllen müssen. Auf einmal schien mir jeder Tag wie mein letzter, jeden dieser letzten Tage musste ich es schaffen, dem Ort meiner Träume näher zu kommen. Zugesehen zu haben, wie Kurt, Charlotte und Silvia in diesem System zusammenbrachen, bewirkte in mir ein fürchterliches Angstgefühl, auch bald in mich zusammenzufallen.
Ich verließ die Klinik mit dem Bus, und ich sah nicht einmal zurück. Am Bahnhof in Wil stieg ich in den Zug um und fuhr alleine nach Hause, da meine Eltern Urlaub im Engadin machten. Dort wollte ich auch hin. Und so setzte ich mich noch am Samstag nach meiner Entlassung im Züricher Hauptbahnhof in den Zug nach St. Moritz, um meine Familie im Skiurlaub zu besuchen. Jeder Schweizer weiß: Wenn man mit einem Schnupfen in die Berge fährt, wird aus dem Schnupfen ein Schüttelfrost.
11
Au s der windschiefen Kneipe »Skunk Hollow« (»Stinktierhöhle«), die von zwei Laternen und einer Wandleuchte angestrahlt wird, dringt Musik, die Stimmen von Menschen mischen sich darunter. Kreuz und quer parken die Trucks auf der Straße. Vor dem Eingang stehen mehrere Typen in meinem Alter zusammen und rauchen, den Hals ihrer Bierflasche zwischen Ring- und Mittelfinger geklemmt. Sie tragen Mützen, zerschlissene Jeans und Strandsandalen im November. Ich dränge mich an ihnen vorbei und hoffe, Jim möge schon da sein, ich hatte mich gestern mit ihm für 20 Uhr hier verabredet. Es ist Mittwoch, und mittwochabends ist hier Open Mike, jeder, der Lust hat, darf auftreten, singen.
Ich komme kaum durch die Tür. Der unebene Fußboden ist mit gewölbten, genagelten Holzdielen ausgelegt. An den Wänden hängen die Bilder schief, und die Deckenbalken scheinen sich unter dem Gewicht des ersten Stockwerks zu biegen. Die Menschen stehen Schulter an Schulter, Rücken an Rücken. Es riecht nach Hopfen und frisch gewaschenen Haaren. Soweit ich auf die Schnelle erkennen kann, ist Jim noch nicht da. Ich schiebe mich zur Bar vor und muss lange warten, bis ich beachtet werde.
»Hi, honey, what you want?«, spricht mich endlich die breite Frau hinter dem Tresen an, die nebenbei ein Bier zapft.
Ich bestelle Gin Tonic. Sie mustert mich von der Hüfte bis zum Scheitel und meint nach kurzer Überlegung, sie müsse meinen Ausweis sehen.
Ich sage, ich ginge zum Teufel auf die dreißig zu!
Das könne sie leider nicht erkennen, sagt sie und verlangt nach einem Pass.
Ich lege das Dokument, in dem mein Geburtsjahr vermerkt ist, auf den Bartresen und verlange ein zweites Mal »Gin Tonic«. Mit der gleichen Miene, mit der sie eben noch das Bier gezapft hat, mixt sie mir den Longdrink und verlangt dann aber lächelnd das Geld. Ich bezahle und drehe mich um. Da steht Jim. Mit einer Handbewegung ordert er Bier.
In der Ecke bei der Eingangstür stellen drei Jungs einen Verstärker auf und schließen ihn an eine Gitarre an. Einer richtet das Mikrofon, es folgt der Soundcheck. Dann kündigt sich die erste Sängerin an. Es ist eine Frau in einem knöchellangen Wollkleid. Sie trägt Birkenstocksandalen und hat sich die Gitarre vor den Bauch geschnallt wie andere Frauen ihre Säuglinge. Sie gibt dem Keyboarder ein Zeichen, und dieser spielt die Akkorde von Blue Bayou an.
Wieder und wieder singt sie den
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