Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
Leben in der Stadt vor Augen zu führen und komme zu dem Schluss, dass es darin eigentlich nur um Konkurrenz und Selbstdarstellung geht.
»Wenn ich mich doch hier so wohl fühle, warum kann ich nicht einfach bleiben?«, frage ich Jim. »Jedes Mal, wenn ich hier bin, ergeht es mir so, dass ich nicht zurück in die Stadt will. Ich spüre, wie mich die Natur erst einschüchtert und dann mit sich zieht, ja einholt, je vertrauter sie mir wird. Mir ist es rätselhaft, wie ich es in der Stadt aushalte. Man wird zum manipulierten Objekt einer Vorstellung von Werbern und Medienmachern. Ich bin dort nie ich selbst, sondern das, was ich vor anderen das Gefühl habe darstellen zu müssen.«
Jim schweigt. Er stochert in der Glut. Dann murmelt er in seinen Bart hinein: »Die meisten Trapper, die jahrelang in der Wildnis gelebt haben, sind erst im Alter wieder in die Zivilisation zurückgekehrt.« Jim wendet mir sein Gesicht zu, zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass er mir in die Augen schaut.
»Ich glaube, wenn man jung ist, macht einem die Einsamkeit nichts aus – erst im Alter sehnt man sich nach Gesellschaft. Dann will man Geschichten erzählen und sich austauschen.«
»Um Geschichten erzählen zu können, muss man gelebt haben. Dafür bleibt immer weniger Zeit.«
»Was ist leben?«, fragt Jim.
»Es ist überleben.«
Jim zuckt mit den Schultern und nickt. »Es ist ein Kampf.« Das Feuer wird sehr groß und heiß, an meinen Oberschenkeln glüht der Stoff meiner Jeans, ich muss etwas zurückweichen.
»Es war ein Kampf«, sage ich. »Heutzutage sichern sich die Menschen doch an allen Fronten ab, um die Angst und die Auswirkung ihres Handelns berechnen zu können. Das Schicksal aber ist nicht berechenbar, und deshalb lassen wir uns gar nicht mehr darauf ein.«
»Einst wollten wir nur überleben, so entstand der Jagdinstinkt, und wir jagten und sammelten, um unsere Existenz zu sichern; Tag für Tag aufs Neue«, meint Jim. »Wir pflanzten uns auch fort, um zu überleben.«
»Heute ist es selbstverständlich, dass wir bestehen bleiben, ja, das steht für den Einzelnen gar nicht mehr in Frage. Der ursprünglichste Wille, einfach am Leben zu sein, wird demnach umgeleitet auf Bedürfnisse, die von anderen in uns geweckt werden – nichts als berechenbare Ausweichmöglichkeiten.«
»Uns zieht das an, was uns Gewissheit vermittelt. Gewissheit nimmt uns die Angst.«
»Ist es das, was uns dann unglücklich macht? Dass wir in einer zu engen gesellschaftlichen Struktur fremdbestimmt und fremdbeeinflusst sind und nicht erinnern, nicht wahrhaben wollen, was einmal unser einziges und stärkstes Bedürfnis war?« Mir drängt sich der fast schon bedrohliche Gedanke auf: Ich muss Rancher und Cowboy werden, egal wie! Denn alles andere wäre nicht das, was ich wirklich will. Ich überlege fieberhaft, was für mich persönlich gleich nach dem Bedürfnis kommt, den Alltag zu bewältigen und zu schreiben. Nein, da ist nichts anderes. Direkt danach kommt bei mir das Bedürfnis, aus der Haustür zu treten und Teil der Wildnis zu sein. Ich weiß, dass ich mein Leben ändern müsste, sollte ich es wagen, meinem Herzen zu folgen. Doch je länger ich darüber nachdenke, je mehr ich verstehe, dass es auch schon vor Hundert Jahren Menschen gegeben hat, die das gleiche Verlangen verspürt haben wie ich heute, desto lauter wird meine innere Stimme. Es ist möglich, ich muss es nur suchen, ich werde es finden, und ich kann es schaffen, wenn ich will.
»Wusstest du, dass die Indianer Süßkartoffeln in der Asche gegart haben?«, lenkt Jim vom Thema ab, und ich bin ihm dankbar dafür.
»Nein. Ich sollte es probieren«, sage ich lächelnd.
»Eigentlich hatten die nur wenig zu essen. Mais, Fleisch, Nusskerne, Wurzelgewächse, das war’s. Aber sie waren hart, zäh, ausdauernd, und sie konnten über Tage hinweg ohne Nahrung überleben.«
Wir lassen das Feuer ausbrennen und kippen noch den letzten Rest Kompost von der Traktorschaufel auf dem Pfad aus. Da entdecke ich in der Humuserde einen armlangen, faustdicken Knochen. Das muss ein Überrest von dem Pferd sein, das sie letztes Jahr im Kompost begraben haben.
Ich hebe ihn auf und halte ihn waagerecht in beiden Händen. Er ist so lang wie mein Arm, die Gelenkkugeln größer als meine Fäuste, porös und ganz leicht. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich habe nur Angst davor, im Sterben zu liegen und zu sagen: »Eigentlich hätte ich gerne … Eigentlich wäre ich gerne …«
Und da entpuppt
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