Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
die Augen an meinem Ärmel trocken. »Ich brauche keine Scheißtaschentücher!«, sagte ich trotzig. Er zog sie zurück und überschlug seine Beine andersherum.
Dann kam der Freitag, an dem uns Silvia verlassen sollte. Freitags wurden immer die Austritte bekanntgegeben und die Abschiede gefeiert. Sie sollte aber nicht freikommen, sie wurde verlegt – in eine andere Klinik.
Silvia war nach einem Jahr, zwei Jahren – niemand von uns wusste es genau – in Littenheid nicht mehr zu halten. Ihr Verhalten besserte sich in keiner Weise. In der Station ging schon die ganze Woche das Gerücht um, dass Silvia nach Bern »umziehen« würde. Als Silvia selbst davon erfuhr, schnitt sie sich drei Nächte hintereinander die Adern auf und tat alles, um in die Notfallstation des nächsten Krankenhauses eingeliefert zu werden. Nachts lag ich wach und hörte die Sirenen, sah das Blaulicht an meinen weißen Wänden entlanggleiten.
Doch der Freitag kam.
Wir saßen wie immer im Kreis, aßen Himbeerquarktorte, rekapitulierten die vergangenen fünf Tage und besprachen, was jeder am Wochenende unternehmen wollte. Silvia saß da wie jemand, den man drauf und dran war lebendig zu begraben. Bleich.
Als Herr Wagner das Wort ergriff und ansetzte, dass »Silvia …«, brach die Frau in ein fürchterliches Schluchzen aus. Ihr ganzer dicker Körper bebte. Ihre hohe Stimme überschlug sich, und sie zog mit jedem Atemzug die Nase hoch. Herr Wagner brachte ungerührt seine Rede zu Ende. Irgendwann stand Katharina, die Ergotherapeutin, auf, hockte sich vorsichtig an Silvias Seite und hielt ihr die Hand. Wir seien ihre Familie, presste Silvia unter großer Anstrengung hervor. Ihre Stimme war so hoch, dass sie sich immer wieder überschlug und sie ins Stottern kam. Das sei ihr Zuhause, man könne sie nicht einfach wegschicken.
Ich senkte wie alle betroffen meinen Blick. Das hier ist nicht mein Zuhause, dachte ich in dem Moment. Ich kann hier nicht bleiben. Ich muss hier weg, bevor es zu spät ist.
Keiner sprach.
Silvias Weinen wurde unerträglich laut. Dann riss sie sich zusammen, erhob sich mühsam vom Stuhl und schleppte ihren Leib zur Tür. Katharina ging ihr nach. Aber Silvia rief, so laut sie konnte: »Bleib da!«
In den Monaten mit Silvia hatte ich erfahren, wie eine Depression zu Treibsand werden konnte. Die menschliche Psyche besitzt die Kraft zur völligen Selbstzerstörung. Sie kann einen immer tiefer ziehen, bis man bis zum Hals eingesunken ist und es unmöglich wird, sich mit eigener Willenskraft aus dem psychischen Schlamassel zu ziehen. Leiden erweckt Mitleid und Aufmerksamkeit – Silvia konnte gar nicht mehr gesund werden, da sie, auf sich selbst gestellt, vollkommen lebensunfähig geworden war. Sie war wie ein Zootier, das keine Ahnung mehr hatte, was es bedeutete, durch die Savanne zu rennen und das nächste Wasserloch zu suchen. Ich glaube, sie wird noch heute in einem Gehege leben, in dem es immer um 12 Uhr Mittagessen und um 18 Uhr Abendessen gibt, in dem immer ein Arzt da ist, wenn sie blutüberströmt nach Hilfe ruft.
Mir war klar, dass ich hier rausmusste, wenn ich selbstbestimmt leben wollte. Um rauszukönnen, musste ich die 50 Kilo Gewicht auf die Waage bringen, koste es, was es wolle.
Die sind krank, dachte ich. Aber ich gehöre nicht mehr dazu. Jetzt muss ich mich entscheiden.
Entscheidungen zu treffen ist ein zentraler Bestandteil unseres Lebens. Und Leben bedeutet Nahrungsaufnahme. Nahrungsaufnahme bedeutet Wärme und Gesellschaft.
Ich stellte mir vor, wie schön es sein konnte, in einer Runde mit netten Menschen zu sitzen, Lammragout zu essen, Wein zu trinken und sich Geschichten zu erzählen.
Ich begann, ernsthaft an meiner Gewichtszunahme zu arbeiten. Wie üblich bei so langer Nahrungsverweigerung entwickelte mein Gehirn in manchen Situationen eine solche Fresssucht, dass ich nicht mehr aufhören konnte zu essen. Die Lust war so überwältigend groß, ich schaffte zwanzig Pralinen plus neun Kekse oder eine ganze Pizza ohne Widerstand. Danach erst schlich sich die Angst ein.
Ich schaffte es aber immer häufiger, diesen Ängsten zu begegnen und sie zu überwinden. Jeden weiteren Morgen stellte ich fest, dass ich trotz der Nahrungsmittel, die ich meinem Verdauungsapparat zugeführt hatte, noch lebte.
Man begann meine Blutwerte täglich zu kontrollieren. Mir wurde nun morgens um sechs Uhr Blut abgenommen. Dann klopfte es an meiner Zimmertür, und immer der gleiche Betreuer mit nierenförmigem
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