Fraeulein Jensen und die Liebe
bist das«, sagt er und lacht. (Grundgütiger, er spricht deutsch!) »Dann gehen wir gleich in meine Garderobe, Hannah.« (Hannah spricht er »Hännah« aus und ich schmelze dahin.)
Drei Erkenntnisse auf einmal:
1. Er spricht deutsch. Und zwar mit einem hinreißenden Akzent! Ich hatte schon ganz verdrängt, wie zauberhaft es klingt, wenn ein Amerikaner deutsch spricht.
2. Wir duzen uns. Der geht aber ran.
3. Ich soll in seine Garderobe. Ich finde, das sagt alles.
Kevin Tarte verabschiedet sich von den Frauen und gibt mir ein Zeichen, dass ich folgen soll. »Los geht’s.« Wir steuern die Stage Door an und im Rücken spüre ich die neiderfüllten Blicke der Zurückgebliebenen. Noch ein paar Schritte, dann bin ich vor den Kugelschreibern, Nagelfeilen und all den anderen gefährlichen Waffen aus Handtaschen sicher, und nichts kann mich mehr von hinten durchbohren. Sollte ich tatsächlich eine Zukunft mit Kevin Tarte haben, müsste ich mir auf jeden Fall einen Freundeskreis außerhalb seiner Fans suchen. Ich stelle es mir außerordentlich anstrengend vor, wenn ich dauernd beneidet werde. Mit dieser ständigen Missgunst könnte ich nicht leben. Nein, ich muss dann ein freundliches, aber professionelles und distanziertes Verhältnis zu den Frauen aufbauen. Aber daran kann man ja arbeiten.
Ich laufe Kevin Tarte aufgeregt hinterher. Plötzlich stößt er in einem kleinen Gang eine Tür auf. Seine Garderobe. »Da sind wir.« Er hält mir die Tür auf und lässt mir den Vortritt (Gentleman!).
Der Raum sieht aus, als sei er von einer ambitionierten Innenrequisiteurin ausgestattet worden: An den Wänden hängen Plakate und Fotos von Künstlern. Überall liegen Berge von Kostümen, an der rechten Seite sehe ich einen großen Spiegel, der fast die ganze Wand bedeckt. Eine Garderobe wie aus dem Bilderbuch. Es gibt nur zwei Stühle. Einen direkt vor dem Spiegel und einen anderen, den ich unter einem Stapel Kleidung erspähe. Der Raum ist so klein und eng, dass ich spontan an die Besenkammer von Boris Becker denken muss. Oh. Mein. Gott.
Kevin Tarte räumt den zweiten Stuhl für mich frei. Ich setze mich mit zitternden Beinen.
»Entschuldige, dass ich mich nicht abschminken konnte. Aber die Zweitbesetzung ist krank geworden und ich muss die Vorstellung heute Abend auch noch singen«, sagt Kevin Tarte und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht (sinnlich!).
»Das macht gar nichts«, sage ich und überlege, ob ich meine Vampirzähne aus der Tasche holen soll. Vielleicht fühlt er sich unwohl, weil nur er verkleidet ist und ich ganz normal vor ihm sitze. Außerdem: Gleich und Gleich gesellt sich gern. Ob ich mich kurz bücke und so tue, als ob ich meinen Schnürsenkel festbinde? Dann könnte ich heimlich die Zähne in den Mund stecken.
Kevin Tarte sieht allerdings sehr entspannt aus. Und nicht so, als ob ihm die Situation unangenehm wäre. Außerdem hat Marion mit ihren Zähnen wahnsinnig stark genuschelt. Es muss also ohne gehen.
Ich entscheide mich für einen offensiven Beginn. Wenn er gleich noch eine Vorstellung singen muss, hat er nicht viel Zeit. Wir müssen schnell zu den relevanten Themen kommen. Die alles entscheidende Frage muss also den Anfang machen, so direkt bin ich ja sonst nicht, aber die Umstände zwingen mich dazu.
»Gibt es die Liebe?«
Oje, war das zu direkt? Als erste Frage? Überrenne ich ihn? Im Uni-Seminar »Journalismus – Grundlagen I« habe ich vor Jahren einmal gelernt, dass man erst einmal mit Smalltalk anfängt, um so den Gesprächspartner auf das Interview einzustimmen und eine lockere Atmosphäre zu schaffen. Ich erinnere mich dunkel an ein Arbeitsblatt, auf dem davor gewarnt wurde, gleich mit der wichtigsten Frage einzusteigen.
Ohgottohgottohgott.
Kevin Tarte sieht mich lange an (welch ein Blick!) und lächelt dann.
»Die Liebe ist ein ständiger Lernprozess.« Seine Stimme ist fest und klar und dunkel und ruhig. Also das Gegenteil von meiner.
Ich sehe ihn erwartungsvoll an. Besser nicht sprechen.
»Nun, ich glaube, dass es verschiedene Phasen gibt. Mit zwanzig denkt man über die Liebe nicht nach, sondern man tut es einfach. Mit dreißig arbeitet man dran. Mit vierzig fängt man an, sie zu verstehen, und mit fünfzig lässt man los.«
Kevin Tarte lächelt und sieht mich wieder an. Seelenruhig.
Wow. Ich bin sprachlos. Da kämpft man sich jahrelang durch Ratgeber und Frauenzeitschriften, und dann bringt dieser Kevin Tarte die Sache mit der Liebe so einfach und
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