Fraeulein Jensen und die Liebe
und beißt dann nicht mehr fremden Männern in den Hals!«) auf die Vorstellung, und neben mir summt eine Frau die Ouvertüre, obwohl es noch gar nicht begonnen hat.
»Haben Sie das Musical schon einmal gesehen?«, frage ich.
»Ja«, nuschelt sie und entblößt beim Sprechen ihre Zähne: Kunststoff-Vampirzähne! Das gleiche Modell, das auch in meiner Vorbereitungstüte steckt und vor ein paar Stunden noch im Mund von Anton und Emma war.
Ein echter Fan!
»Und wie oft schon?«
Sie nuschelt »seschundaißich«.
»36?«
Sie nickt.
Oh mein Gott, ein wirklich echter Fan. Zum Glück fragt sie mich nicht, wie oft ich es schon gesehen habe. Meine zwölf Mal kommen mir plötzlich so popelig vor.
»Ich nehme die Zähne mal raus«, sagt die Frau und legt sie auf die Armlehne zwischen uns. Ein kleiner Rest Speichel fließt genau auf meinen Oberschenkel zu. »Dann singt es sich nachher auch leichter.«
»Was haben Sie gesagt?«
»Ohne Zähne singt es sich leichter.«
Ein Satz, der uns zusammenschweißt. Denn in Marion (echte Fans haben sofort einen Draht zueinander und machen sich gleich bekannt) habe ich endlich eine Gleichgesinnte gefunden. Sie ist so textsicher wie ich und gemeinsam singen wir uns in Reihe fünf durch den Abend. Bei den Duetten teilen wir ganz intuitiv die Rollen unter uns auf, in der Pause tauschen wir die wichtigsten Infos aus (welches Lieblingslied, welcher Lieblingstakt, wie wohl die Wiederaufnahme in Tokio klappt?). Als Kevin Tarte nach drei Stunden die Arie »Die unstillbare Gier« singt, drückt Marion meine Hand und wir lächeln uns selig an. Es ist mir sogar egal, dass der Speichel ihrer Vampirzähne inzwischen treffsicher meinen Oberschenkel erreicht hat.
Halt, ich darf Marion nicht zu nett finden. Ich habe genau gesehen, wie sie Kevin Tarte, meinen Gesprächspartner nach der Show, meinen Vielleicht-bald-Partner, jedes Mal lüstern angestarrt hat, wenn er auf der Bühne war. Marion ist eine Konkurrentin. Die eigentlich ausgeschaltet werden muss. Na ja, natürlich nicht direkt, aber auf jeden Fall darf ich sie nicht mit zum Interview nehmen. Zwischen dem ersten und zweiten Akt und dem Höhepunkt unserer Verbundenheit hatte ich für einen Moment überlegt, ob ich Marion als Kollegin tarnen und mit zum Interview nehmen könnte. Zum Glück bin ich wieder im Besitz meiner geistigen Kräfte: Marion muss hier bleiben.
Als sie dann auch noch einen Strauß roter Rosen auf die Bühne wirft, als Kevin Tarte sich verbeugt, ist klar:
Marion muss definitiv hier bleiben.
Ich verabschiede mich etwas unterkühlt von Marion. Der Blumenstrauß war wirklich zu dick aufgetragen. Man muss sich einem Mann nicht hemmungslos an den Hals schmeißen. Aber das Schlimmste: Kevin Tarte lächelte Marion auch noch direkt an, als er ihn gefangen hat. Hier, wollte ich schreien. Lenk deine Augen mal zehn Zentimeter nach rechts. Da sitzt deine zukünftige große Liebe!
Egal, jetzt habe ich das Feld ja endlich wieder für mich allein. Ich gehe zur Kasse.
»Mein Name ist Hannah Jensen. Ich habe jetzt ein Interview«, sage ich.
»Aha«, sagt die Frau hinter dem Schalter gelangweilt.
»Ich habe ein In-ter-view«, sage ich noch einmal deutlicher und vor allem lauter. Die Umstehenden können das ruhig mitbekommen, schließlich ist »Ich habe jetzt ein Interview« ein Satz, den man im Gegensatz zu »Ich habe eitrigen Ausschlag am großen Zeh, haben Sie da ein Mittel gegen?« gerne von sich gibt. Aus den Augenwinkeln meine ich zu sehen, wie eine Frau hinter mir ihren Mann in die Seite knufft. Hah, die denken jetzt, dass ich furchtbar wichtig bin. Richtig so, denn bald bin ich es ja auch. Mit Kevin an meiner Seite.
Die Frau am Schalter sieht mich immer noch gelangweilt an. »Da müssen Sie zum Bühneneingang. Hinten rechts. Stage Door steht dran.«
Wow. Ich soll zur Stage Door. Ich finde, wenn man zur Stage Door geschickt wird, hat man es irgendwie geschafft im Leben.
Ich lasse die Frau hinter mir in der Schlange durch und sage laut: »Gehen Sie ruhig an den Schalter vor, ich soll zur Stage Door.«
Wunderbar, wunderbar. Gleich werde ich an eine kleine, aber feine Stage Door klopfen. Sie wird wahrscheinlich aus Holz sein, und wenn man kein Kenner der Szene wäre, würde man diesen versteckten Eingang in eine andere Welt wahrscheinlich kaum wahrnehmen. Ich werde klopfen und zunächst wird nichts passieren. Die Stille und die Anspannung zerreißen mich fast innerlich. Es ist so leise, dass man eine Stecknadel zu Boden fallen
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