Fraeulein Jensen und die Liebe
würde unwahrscheinlich schlank aussehen, weil eine Dreitagesdiät schon wahnsinnig entschlackt.
Schön und bereit für jeglichen Genuss wollte ich also zu Henssler schreiten.
Die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Gerade bin ich an der Haltestelle Landungsbrücken am Hafen ausgestiegen, um die letzten hundert Meter zu Hensslers Restaurant zu gehen. Machen wir es kurz: Von »gehen« kann eigentlich keine Rede sein. Ich bin dermaßen angeschlagen, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Mehr schlecht als recht setze ich zitternd einen Fuß vor den anderen. Vielleicht sollte man eher von »torkeln« sprechen. Drei Tage Hungerstreik für die Liebe waren einfach zu viel für mich. Ich bin ein körperliches Wrack. Und dann noch erst mein geistiger Zustand: Ich habe mal gelesen, dass sich bei Unterernährung irgendwann das Hirn ausschaltet, weil es zu viel Energie verbraucht. Ich befürchte, mein Hirn hat beschlossen, genau dies zu tun.
Ohne zu denken, torkle ich weiter. Bis ich plötzlich vor dem Restaurant stehe. Ich drücke mich mit aller Kraft gegen die Eingangstür und betrete den Raum. Ob ich mich wohl kurz hinlegen dürfte?
Im Sitzen geht’s. Das »Henssler Henssler« ist zum Glück ein Restaurant, in dem man am Eingang von einer Mitarbeiterin begrüßt und dann an einen Tisch geleitet wird. Ich war noch nie in so einem »Platzier-Restaurant«, aber obwohl ich der Dame vollkommen dumpf hinterhertrotte, spüre ich, dass ich mich an dieses Gefühl durchaus gewöhnen könnte. (Es hat irgendwas Erhabenes an sich.)
»Darf ich Ihnen schon etwas zu trinken bringen, bevor Herr Henssler kommt?«
»Wasser«, stoße ich hervor. »Ich meine, ich hätte gerne ein Wasser, wenn es geht, danke.«
»Aber gerne doch.« Sie lächelt.
Wasser? Warum habe ich bloß Wasser bestellt? Ob ich auch eine heiße Schokolade bekommen könnte? Mit extra viel Sahne? Und ob es ihr wohl was ausmacht, schon einmal ein paar Schnittchen zu bringen? Nur ein paar. Ich brauche Kalorien, schreit es in meinem Kopf. Als sie gerade gehen will, rufe ich ihr hinterher: »Ich nehme doch lieber einen Orangensaft.« (Der ist zumindest etwas reichhaltiger als so ein blödes Wasser.)
»Natürlich.« Sie lächelt und geht. Zwei Minuten später steht ein Orangensaft vor mir. Weitere fünf Sekunden später ist er in meinem Magen verschwunden.
Das tut gut.
Ich merke, wie mein Körper sich etwas entspannt. Zum ersten Mal kann ich mich in Ruhe umsehen. Gegenüber der großen Fensterfront liegt die offene Küche, in der rund ein Dutzend gut aussehende Köche (in Kochjacken!) hektisch durcheinanderschwirrt. Die Tische und Stühle sind schwarz und bilden einen edlen Kontrast zu den weißen Tischdecken. Das Besteck ist auf Hochglanz poliert, die Männer tragen teure Anzüge und über den Stühlen der Frauen hängen Pelzmäntel. Wie schick hier alle aussehen. Zum Glück kann ich mithalten. Ich trage ein »kleines Schwarzes«, dazu hohe Schuhe, in denen ich einigermaßen gehen kann. Für meine Verhältnisse bin ich ziemlich stark geschminkt und kann ohne Übertreibung sagen, dass meine Augen noch nie so verrucht aussahen. (Ich hatte die Lichtverhältnisse im Restaurant etwas dunkler eingeschätzt, muss ich zugeben. Es ist doch ziemlich hell, wie ich jetzt bemerke.) Aber mein Gott, so ein Candle-Light-Dinner (so etwas in der Art ist es ja schließlich) mit einem Traummann hat man eben nicht jeden Tag. Da kann man ruhig etwas dicker auftragen. Außerdem wird Steffen Henssler ja sicher auch ziemlich schick aussehen. Ob er wie die anderen Männer hier einen Anzug trägt? Wir werden ein schönes Paar abgeben, denke ich und atme tief durch. Je länger ich in diesem Restaurant sitze, desto besser geht es mir. Ich fühle mich schon wieder ziemlich fit. Das muss an dieser inspirierenden Umgebung liegen. Ob Steffen und ich eigentlich immer hier essen werden? Ich meine, auch privat? Ich glaube ja nicht, dass sich ein Steffen Henssler abends ein paar Brote schmiert. Wahrscheinlich kann ich irgendwann kaum noch woanders essen, da ich mich dermaßen an Steffens Niveau gewöhnt habe. Wie bringe ich bloß meinen Eltern bei, dass ihre kleine Hannah ein Gourmet geworden ist?
Oh Gott. Ich glaube, jetzt gibt es wichtigere Dinge, über die ich nachdenken muss. Denn ich sehe plötzlich, wie Steffen Henssler in schnellen Schritten auf mich zukommt.
In Jeans und T-Shirt!
Vor einer halben Stunde noch konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, weil ich solchen
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