Fraeulein Stark
Bibliothek. Lief denn immer alles verkehrt; Als ich die Nase dringend gebraucht hätte, um hinter dem Namen Nares eine Abkürzung zu riechen, hatte der tumbe Klosterschüler agiert, und jetzt, da ich am liebsten ein Stück Marmor gewesen wäre, nichts fühlend, nichts merkend, nichts wissend, mußte noch einmal der andere erwachen, die Augen aufreißen und mitbekommen, wie die bein-lahme Serviertochter aus Porters heruntergekommener Gastwirtschaft von der Bilder- und Bücherpracht des Barocksaals ergriffen wurde. Schweigend stand sie im offenen Portal, stand und sah und staunte, und während ich eilig abzuschätzen versuchte, ob man ihren Spezialschuh nicht doch in die Filzhaube einer ausgelatschten Übergroße hineindrücken könnte, straffte sich ihr Rücken, der Kopf legte sich um ein weniges in den Nacken, und mit sanfter Gewalt öffnete ihr der Bücherhimmel erst die Lippen und dann die Augen, die zu weinen begannen. So etwas Schönes, stammelte Hanni, so etwas Schönes! Ich kniete vor ihrem Lederklumpen, aus dem das kranke, in glänzende Schienen eingeschnallte Bein armdünn hervorstand. Nein, da war nichts zu machen, Hanni mußte draußen bleiben, die Gefahr, daß ihr Krückstock im hautweichen Kirschbaumholz nie mehr zu tilgende Stempel hinterlassen würde, war zu groß. Hat sie es selber gespürt? Ich weiß es nicht, ehrlich, ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe, da verschwimmt einiges, taucht ab in die Katakomben, wo es in irgendwelchen Akten, sauber verschnürt, allmählich vermodert, aber dieser hoch vernestelte, scharf nach Leder und süß nach Schuhcreme riechende Spezialschuh ist in meiner Erinnerung stehengeblieben: übergroß, überdeutlich, bis heute.
Sie habe gehört, daß ich bald verreise, sagte nach einem langen Schweigen Hannis ferne Stimme, sie sei gekommen, um mir adieu zu sagen.
Ich versuchte irgend etwas zu antworten, aber ich schaffte es nicht. Ich kniete zu ihren Füßen und linste unter ihren Rock, und was der Bücherhimmel eben mit ihr gemacht hatte, machte Hanni nun mit mir. Sie öffnete mir erst die Lippen und dann die Augen, die zu weinen begannen. Alles wurde weich, wurde warm, und was ich im langen, nun im Herbstnebel sich verlierenden Sommer immer nur kurz, nur von weitem und meist als etwas Verhülltes hoch oben im Abgrund ihrer Stoffglocken mehr erahnt als erblickt hatte, verbarg sich jetzt in meinen Tränen. Ich hatte die Welt vor Augen und vermochte sie nicht zu sehen. Ich denke bis heute an Hanni, und in einem wiederkehrenden Traum, von dem ich nie weiß, ob er mich bedrücken oder beglücken will, zieht sie ohne Krücke in den Saal ein, selbstverständlich mit meinen Pantoffeln, dreht Kreise und zieht Figuren, lacht und tanzt und schwebt, bis sie dann, noch schmaler werdend und noch leichter, im heiteren Nachmittagslicht wie im Nichts verschwindet, ein hochflatternder Rock, eine sommerleichte Glocke, die mir alles, alles zeigt…
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Dieser Stoff, ein silbern schimmerndes Innenfutter, soll früher einmal, viel früher, im vorletzten Jahrhundert des letzten Jahrtausends, ein Ballkleid gewesen sein, vornehm und kostbar, silbrig blau und silbrig rot, von Küssen bedeckt, von Kerzen beglänzt und Nacht für Nacht von verliebten jungen Grafen und strammen Leutnants durch herrliche Ballsäle geführt. Wer die Schöne, die die Robe getragen hat, gewesen ist, weiß niemand, irgendwann jedoch, irgendwann und irgendwie und wie im Traum, kam ein alter Mantel über die bäum- und menschenlose Ebene dahergeweht, ein schäbiger Mantel, vom jammernden Wind getrieben, der Pelzkragen abgetrennt, der Rücken löchrig, voller Flicken und Risse, und kostbar an diesem Mantel war nur sein Innenfutter, das ehemalige Ballkleid, das nun abgeschabt war zu seidiger Farblosigkeit. Wie das Ballkleid als Futter in den Mantel geraten und woher dieser Mantel zugeflattert war, ob aus dem Galizischen, aus Polen oder aus Rußland -keine Ahnung, niemand weiß es, denn nur das Innenfutter, könnte man sagen, hat das Ziel der langen Reise erreicht, nur das Innenfutter lebte weiter, nahm gleichsam Gestalt an, wurde zu einer Linie und sogar ein Geschäft.
Das kam so: Alexander »Sender« Katz gelangte aus den unendlichen Ebenen des Ostens über tausend Umwege nach Zürich
und hatte von seiner jahrelangen Wanderung einen Husten, der so hölzern klang, als klopfe jeder Stoß gegen die Sargtür. Sender Katz war verzweifelt. Warum hatte er die Ebene verlassen? Was suchte er hier; Eines Tages lernte er ein
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