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Fraeulein Stark

Titel: Fraeulein Stark Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Huerlimann
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hatte die Botschaft verstanden. Weil ich das Fräulein verärgert hatte, war der Kaffee gestrichen worden.

8
    Aber schon am Nachmittag war der Spuk vorbei, der Boykott wurde aufgehoben, wieder gab es zu den gewohnten Zeiten Kaffee: vormittags um elf und nachmittags um drei, kurz nach der Todesstunde des Herrn. So ging das Leben an Bord seinen Gang, tagtäglich den gleichen, frühmorgens rollte im bodenlangen Nachthemd rundbäuchig der Stiftsbibliothekar in meine Kammer und schmetterte sein: Salve nepos, carpe diem! Morgen, Neffe, pack dir den Tag! Dann rannten wir durch die langen, nach feuchtem Mörtel riechenden Gänge in die Kathedrale, und stemmte er, während ich ministrierend die Schelle schüttelte, seinen Kelch in die Höhe, warf sich sein Haupt derart halsbrecherisch in den Nacken, daß man Morgen für Morgen befürchten mußte, er könnte samt Kelch hintüberkippen und rückwärts vom Altar purzeln. Nach dem Segen ließ er vielarmig fuchtelnd die Orgel erschallen, und das Fräulein, züchtig mit einem Kopftuch bedeckt, trat vor die Madonnengrotte, um ihr Lächeln mit dem hölzernen Ebenbild in eine geheimmsvolle Übereinstimmung zu bringen.
    Anschließend gab es das Morgenessen. Der Onkel setzte sich an sein Pult und las, erste Zigaretten paffend, die »Ostschweiz«. Gemäß
    G.W. F. Hegel, pflegte er zu sagen, sei die Zeitung das Frühstück des gesunden Menschenverstandes. Ich mußte meine Milch in der Küche trinken, beim Fräulein. Früher hatte sie fröhlich geplappert, hatte vom Vater erzählt und vom Winter, aber seitdem sie mich hartnäckig für einen Sünder hielt, für einen Verstößer wider das Sechste, redeten wir nur noch selten, nur das Nötigste, sie stand am Fenster, zeigte mir den Rücken, auf dem Hinterkopf einen stramm geflochtenen Knoten, circa apfelgroß, sowie ein pralles Derriére. Fräulein Stark, hätte ich gern gefragt, warum haben Sie behauptet, ich sei ein kleiner Katz? Und warum muß man da »besonders aufpassen«;
    Du kommst zu spät.
    Sie konnte Gedanken lesen. Ich stand auf, huschte hinaus. Bin schon unterwegs, Fräulein Stark.
    Zwischen neun und zehn fuhren die Busse vor, auf ihren Gummischuhen knirschte die Hochtoupierte heran, von einer Frauenschar gefolgt, ich kniete mich in die Arbeit, schätzte ihre Größen ab, teilte ihnen die Pantoffeln zu, die nächste bitte, die nächste, die nächste. Nach zehn entstand eine kleine Pause, worauf dann, meist gegen halb elf, die Hochzeitsreisenden erschienen, frischvermählte Paare, die im Hotel Walhalla übernachtet hatten. Er: Knickerbocker, Krawatte, gestricktes Wams, stößt die Gummischuhe
    in ein Pantoffelpaar, und: Abrogans?, fragt er knapp.
    Ich: Dritte Vitrine rechts, Herr Doktor.
    Er, zu ihr: Alphabetisches Wörterbuch, um 790 verfaßt,
    südwestdeutsches Scriptorium. Tuotilo-Tafeln?
    Ich: Gleich um die Ecke, Herr Doktor, links vom Portal.
    Na, dann wollen wir mal, ruft er tatendurstig, wirft den rechten Arm
    nach vorn, den linken nach hinten, und schon rutscht er im flotten Langläuferstil auf den Filzsohlen davon, zu den Tuotilo-Tafeln, zum
    Abrogans oder schnurgerade zum langersehnten Höhepunkt seiner Liebesfahrt, zur Nibelungen-Handschrift B.
    Und sie? Schön ist sie, ich ahne es, will aber vom Fräulein nicht ertappt werden und konzentriere mich voll und ganz auf meine Pflicht. Sandalen ohne Socken, kräftige Waden, rötlichblond beflaumt. Ich greife zur Pantoffel, will sie ihr überstreifen, da höre ich leis einen Seufzer.
    Madame, spreche ich zum weißen Spann, unser Parkettboden ist um 1760 verlegt worden, das Tragen dieser Pantoffeln ist Vorschrift.
    Vorschrift, flüstert sie, wie entsetzlich!
    Elfriede, ruft er gedämpft, Elfriede!
    Sie gibt erst den einen Fuß, dann den andern.
    Ich stoße ihr die Töffelchen sanft über die Sandalen.
    Komm schon, Elfriede, drängt der Frischvermählte, um zwölf machen sie zu!

9
    Anfang Oktober sollte ich im fernen Einsiedeln in die Klosterschule einrücken, ich würde eine Kutte tragen und mit der Hilfe der Patres zu einem christlichen Jungmann werden. So war dies mein letzter Sommer, ein langer Sommer, Ferien bis Anfang Oktober, und eigene lieh, läßt sich aus der Distanz der Jahre sagen, eigentlich ging es mir beim Onkel und beim Fräulein recht gut. Ich hatte ein Amt, ein Bett, Bücher und zu essen. Nach dem Segen flog ich mit seinem Orgelspiel über die Dächer, beim Mittagessen lernte ich die ersten Brocken Latein, zum Beispiel das Wort avunculus, das Mutterbruder

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