Fraeulein Stark
Damen, liebe Besucherinnen aus dem schönen Villingen-Schwenningen, im Anfang war das Wort, dann kam die Bibliothek, und erst danach, also an dritter und letzter Stelle, kommen wir, wir Menschen und die Dinge. Nomina ante res -die Wörter zuerst!
Nomina ante res, zwitscherten die Lehrerinnen, die Wörter zuerst!
Der Onkel gebot Silentium, dann forderte er die Damen auf, ins Innere einzutreten. Mir nach!, befahl die Hochtoupierte, wieder brach ein wildes Gezwitscher aus, ein Flüstern und Kichern, wie Kompaßnadeln zuckten sämtliche Filze Richtung Portal und schliffen dann, einander auf die Filzlappen tretend, über die Schwelle. Alle? Nein. Eine in Strümpfen, eine schwarze Königin unter lauter
Kniesocken, wurde vom Onkel zurückgehalten. Übrigens, sagte er, hie est nepos praefecti, das ist der Neffe des Chefs.
Der da?, fragte sie und sah über ihre spitzen Brüste auf mich herab.
Der Stiftsbibliothekar legte seine seidenumhüllte Hand auf ihren Unterarm und sagte: Madame, dürfte ich Sie bitten, Ihren Blick noch einmal nach oben zu richten, auf die Inschrift im Portalbogen;
Hebräisch?
Griechisch, hörte ich den Onkel erklären, Diodorus Siculus will diese Inschrift an einer Tempelkirche in Ägypten gelesen haben, und zwar an einer Bibliothek, deren Gründung auf König Ramses II. zurückgehen soll, also in das dreizehnte Jahrhundert ante Christum natum…
Schwarze, feinmaschige Seidenstrümpfe. Die Hochferse keilförmig eingewoben, die Waden kräftig und die Luft schwer, feucht, fast dunstig, Regenwaldluft, Gewitterluft, die gewaltige Ausdünstung einer Riesin.
Die Inschrift, hörte ich den Onkel weiterreden, aber immer leiser, als würde er sich in einem Luftballon über Kloster und Stadt entfernen, heiße Psychesiatreion, das sei griechisch und bedeute Heilstätte für den Geist: Seelen-Apotheke…
Seelen-Apotheke, ich kannte das Wort, kannte den Spruch, manchmal hörte ich ihn zehnmal am Tag, ja, Madame, würde er nun sagen, wir führen alle Leiden und alle Mittelchen dagegen, worauf sie lächeln würde, vermutlich ein trauriges Lächeln, ein Leiden hatte auch sie, ein Leiden hatte jede, mal wars die Liebe, mal die Schwermut, mal ein Mann, mein Gott, Monsignore, können Sie mir wirklich helfen;
Und statt einer Antwort glitt der ehrwürdige Stiftsbibliothekar in seinen Spezialpantoffeln über die Schwelle, von der Auserwählten jeweils gefolgt, aber heute lief es anders ab, heute war alles anders, um ihre Füße wucherten Geruchsblüten, es rochen die nassen Strümpfe, es rochen die feuchten Röcke, und die Frau, der sich der Onkel speziell gewidmet hatte, wollte nicht mit ihm über die Schwelle gleiten, die hochhackigen Absätze blieben stehen, bohrten sich in die Filzzungen meiner Pantoffeln, sie bewegte sich nicht, noch nicht, offenbar staunte sie nach wie vor diese aus urältester Zeit stammende Inschrift an. Es war stärker als ich, ein lautloser Sturm, das Herz klopfte, raste jetzt, die Nase roch, und die Augen, ob ich wollte oder nicht, kletterten hinauf in den zwielichtigen, taubenzartgrauen Abgrund ihrer Stoffglocke.
13
Vom Geschlecht der Katzen hatte ich damals keine Ahnung. Gewiß, so hatte früher die Mutter geheißen, aber zu Hause wurde dieser Name nicht ausgesprochen, er blieb, wie gewisse Vorgänge im Schlafzimmer der Eltern, ins Französische verbannt. Meiner Schwester und mir kam es nicht in den Sinn, dahinter ein allzu bedeutendes Geheimnis zu vermuten. Warum auch, totgeschwiegen wurde der Großvater nicht, wenn wir heftig bettelten, erzählte Mama von ihrer Kindheit, vom sonnenbewohnten Nußbaum und von den Badekabinen, meist mit einem Lächeln, euer Großvater, sagte sie, ist ein lieber, alter Mann. Wird er uns besuchen?
Vielleicht, sagte Mama.
Wir wußten natürlich, das sagte sie immer, ahnten auch, wie es gemeint war, nie würde er kommen, und nie würden wir mit unserem Ford Taunus 17 M zum fernen Weiher fahren, niemand vermißte den Alten, und der Vater, Hauptmann im Generalstab, war eher an derÜberquerung von Pässen interessiert -die ging er mit militärischen Zeitplänen an und bezwang sie erfolgreich.
Ich hatte keine Ahnung, ich machte mir keine Gedanken, und erst in der Bibliothek kam ich an einem schwülheißen Sommerabend auf die Idee, bei nächster Gelegenheit jenes Schublädchen aufzuziehen, das den Namen enthalten mußte. Eine Seelen-Apotheke führe alles, hatte der Onkel gesagt, jede Krankheit und jedes Mittelchen dagegen, von Aristoteles bis Zyste.
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