Fragmente des Wahns
mehr.“
„Soll ich weitermachen?“, fragte Niederseher beschwichtigend, doch Andreas wollte es nicht.
„Nein, danke, das muss ich machen.“ Andreas wandte sich wieder seinem Bruder zu. „Darf ich dir alles von Anfang an erzählen? Wirklich alles?“
„Ich kann einfach nicht glauben, was hier gerade passiert. Ich dachte, alles was ich bis jetzt durchgemacht habe, wäre das Schlimmste meines Lebens gewesen. Doch nun bin ich hier und muss feststellen, dass alles noch viel schlimmer wird. Ich meine, das ist Wahnsinn.“
„Ja, in gewisser Weise schon. Willst du denn die Wahrheit überhaupt noch erfahren?“
„Sag du es mir, Andreas.“
„Nein, Alex, das kann ich nicht für dich entscheiden. Ich kann dir alles erzählen oder für immer schweigen. Doch ich werde dir die Entscheidung definitiv nicht abnehmen.“
Schweigen.
Es war angenehm und zerstörerisch zugleich. Alex wusste nicht, wie er sich entscheiden sollte. Die ganze Zeit über wollte er die Wahrheit hinter allem erfahren und nun, wo er wirklich kurz davor stand, alles zu erfahren, war er sich nicht mehr sicher, es noch wissen zu wollen.
„Was meinen Sie, Doktor Niederseher? Sie kennen die Wahrheit, nicht wahr?“
„Ja“, antwortete er. „Doch auch ich kann Ihnen die Entscheidung nicht abnehmen, Herr Schneider. Es tut mir leid.“
Alex atmete schwer. Er stand auf, ging im Behandlungszimmer auf und ab, um sich selbst und seinen Verstand zu beruhigen. Er wollte nur noch einmal über alles nachdenken und sich dann spontan entscheiden, denn anders ging es nicht.
Dann fand er seine Antwort. „Ja.“
„Ja?“, fragte Andreas nach.
„Ja, ich möchte es erfahren. Bitte erzähl es mir. Erzähl mir alles .“
„Okay. Setz dich.“ Alex gehorchte. „Also, wie gesagt, das Haus in der Wilderstraße 7 gehörte einst dir und deiner Familie. Die schwarzhaarige Frau, welche dir die Tür in deiner Halluzination geöffnet hat, war deine Frau. Allgemein sind deine Halluzinationen in Wirklichkeit nichts anderes als frühere Erinnerungen, die du eigentlich vergessen haben solltest.“
„Ich hatte also eine Frau vor Lisa?“, fragte Alex zögerlich.
„Jein. Sandra war deine Freundin. Ihr wart verlobt, aber bis zur Hochzeit seid ihr nicht gekommen. Vorher starb sie.“
„Wie?“
„Das will ich dir eigentlich noch gar nicht erzählen“, antwortete Andreas bedrückt.
„Super“, schimpfte Alex. „Mensch, Andreas. Ich verstehe diese ganze Sache nicht. Mir kommt alles so vor, als würdest du mir eine Geschichte erzählen, die du irgendwann im Fernsehen gesehen hast.“
„Dann frag mich etwas.“
„Wie bitte?“
„Ich habe dir doch gesagt, dass all deine Halluzinationen in Wahrheit Erinnerungen sind. Das wusste ich von Moment an, als du mir über sie erzählt hast.“
„Du meinst wie die Sache mit der Geburtstagstorte und dem Geschenk?“
„Zum Beispiel. Ich kann mich sehr gut an diesen Tag erinnern, denn es war der dritte Geburtstag deiner Tochter Leonie. Sie hatte diese Torte und eine Barbiepuppe bekommen.“
„Na super, ich hatte jetzt auch noch eine Tochter?“
„Ja. Lass mich dir ein wenig von ihnen erzählen.“
„Okay.“
„Sandra hast du vor sechzehn Jahren am Guggi kennengelernt. Sie hatte langes schwarzes Haar, volle Lippen und intensiv grüne Augen. Sie hat immer versucht witzig zu sein, war es aber meistens nicht. Zudem muss sie ein ganz schönes Biest im Bett gewesen sein, so wie du mir erzählt hast.“
„Und Leonie?“
„Kam drei Jahre später auf die Welt. Deine kleine Prinzessin, wie du sie immer genannt hast. Ein Jahr zuvor habt ihr euch verlobt. Eure Verlobungsfeier war fast schon wie eine Hochzeit, schönes Wetter und im Freien. Ich werde sie wohl nie vergessen können.“
„Ich anscheinend schon.“
„Entschuldigung, es war nicht so gemeint.“
„Ja, schon klar. Aber mal im Ernst, wie konnte ich all das vergessen? Ich meine, wie viele Jahre waren es? Drei? Ich kann doch nicht drei Jahre meines Lebens vergessen.“
„Um ehrlich zu sein, waren es sechs Jahre. Aber ich möchte erst später näher darauf eingehen, wenn ich darf“, mischte sich Niederseher ein, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte.
„Wie das?“
„Da wären wir bei dem Punkt, wo Niederseher nicht weitermachen wollte und auch ich nicht weiß, ob ich es erzählen kann.“
Es war wieder Andreas.
„Der Tag ihres Todes?“
„Ja“, antwortete sein Bruder. „Es war am Abend des dritten Geburtstags von Leonie gewesen. Du warst
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